Die Linke in der Dialektik von Theorie und Praxis
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Vorwort
Dieser Text beruht auf einem Vortrag, den die Gruppe 180° unter dem Titel „Revolte ohne Wandel – Die Linke in der Dialektik von Theorie und Praxis“  am 20. März 2007 im Theaterkeller in Göttingen gehalten hat. Er wurde  zur Veröffentlichung leicht überarbeitet und geglättet. Die  Argumentation entspricht jedoch im Wesentlichen der auf der  Veranstaltung dargestellten. Die zugehörige Präsentation, die für den  Vortrag verwendet wurde, findet ihr hier. 
Das Ziel unserer Gruppe ist die Analyse und Veränderung der  Gesellschaft als Ganzer. Dementsprechend betrachten wir  Herrschaftsverhältnisse wie Rassismus und Ethnisierung ebenso wie die  gesellschaftlichen Geschlechterverhältnisse nicht als  „Nebenwidersprüche“, die erst nach einer wie auch immer gearteten  Revolution anzugehen wären oder sich mit dieser gar von selbst erledigen  würden. Aufgrund der aktuellen Debatten haben wir uns jedoch darauf  beschränkt, unsere Argumentation auf den Bereich zu beschränken, der  traditionell als „soziale Frage“ verhandelt wird und der sich mit dem  Bereich deckt, den die Kritik der politischen Ökonomie in ihrem  traditionellen Verständnis bearbeitet.  
Der Titel dieser Veranstaltung lautete „Revolte ohne Wandel“.  „Wandel“ meint dabei den Wandel von Gesellschaft. Wie lässt sich der  Wandel der Gesellschaft vom Kapitalismus hin zu einer  nichtkapitalistischen, befreiten Gesellschaft denken? Wenn  gesellschaftlicher Wandel auf die Überwindung des Kapitalismus zielen  soll, dann ist zunächst entscheidend, was denn diesen Kapitalismus  ausmacht. Oder anders gesagt: Zu klären bleibt, was genau da eigentlich  überwunden werden soll.  
1. Welcher Kapitalismus? Welche Kritik?
Lange Zeit schien die Sache relativ klar zu sein. Im  Kapitalismus, da gibt es auf der einen Seite die Kapitalist*Innen,  dargestellt sehr häufig mit dicker Zigarre im Mund und Melone auf dem  Kopf, und auf der anderen Seite gibt es die Proletarier*Innen im  Blaumann und mit zerschundenen Knochen. Kapital und Arbeit stehen sich  unversöhnlich gegenüber. Die einen haben die Verfügungsgewalt über die  Produktionsmittel, mittels derer sie jene, die nichts als ihre  Arbeitskraft zu Markte tragen können, ausbeuten – also den von der  Arbeiterklasse produzierten Wert abzüglich des Lohns einstreichen. 
Kapitalismus wurde lange Zeit als Herrschaft der einen Klasse  über eine andere analysiert und bekämpft. Die Ausbeutung des  Proletariats sollte überwunden werden, der erwirtschaftete Wert also  tatsächlich und möglichst vollständig in die Hände der Arbeiter*Innen  gelangen. Der soziale Wandel war dabei identisch mit der Aneignung des  Mehrwertes durch die Arbeiter*Innen, also dem Teil des durch Arbeit  produzierten Wertes, den die Kapitalist*Innen einbehalten. Die  Verteilungskämpfe von Kapital und Arbeit waren so ein unmittelbarer  Anknüpfungspunkt für weite Teile der radikalen Linken. Die Kämpfe  sollten auf die Entwicklung von Klassenbewusstsein zielen und  schließlich von einem seinem Klasseninteresse bewusst gewordenen  Proletariat zugespitzt werden, bis aus dem Kampf um den Mehrwert ein  Kampf um die Expropriation der Expropriateure – der Enteignung der  Enteigner – wird.  
Im Mittelpunkt standen also die Verteilung des gesellschaftlichen  Reichtums und – das ist entscheidend - die Eigentumsverhältnisse, die  diese Verteilung bedingten und der einen Klasse die Macht geben, die  andere auszubeuten. 
Die gesellschaftliche Form des Reichtums stand dabei weitgehend  außerhalb der Kritik. Was das heißt, dazu kommen wir jetzt. Dies ist im  Wesentlichen der Stein des Anstoßes einer Kritik, die sich ab Mitte/Ende  der 1980er Jahre entlang einer Neuinterpretation der Marx‘schen Kritik  der politischen Ökonomie entwickelte. 
2. Die Wertkritik
Diese Kritik hat seit einigen Jahren unter dem Label „Wertkritik“  in den Debatten der radikalen Linken v.a. in Deutschland an Bedeutung  gewonnen. Ihre theoretischen Wurzeln hat sie in der neuen Marxrezeption  (Backhaus, Reichelt etc.) im Anschluss an die Kritische Theorie  (Horkheimer, Adorno), die zwar auch von der Protestgeneration der 1960er  und 1970er Jahre rezipiert, damals aber nicht systematisch angeeignet  wurde. Es gab eher einen Bezug auf die Namen als auf die damit  verbundenen theoretischen Implikationen. 
Dann kam es in den 1980ern zu einer neuen historischen Situation,  die scheinbar eine neue und erweiterte Beschäftigung mit diesen  Ansätzen nahegelegt hat: die mit sinkendem Wirtschaftswachstum  verbundene und für damalige Verhältnisse hohe Arbeitslosigkeit; die  ausbleibenden Kampferfolge der Arbeiter*Innenbewegung; der Niedergang  des Realsozialismus; die Umweltbewegung und ihre Kritik am  Wachstumszwang, mit der sich der traditionelle Marxismus nie wirklich  anfreunden konnte. 
Hier begann nun eine Debatte darum, was denn eigentlich den Kern  des Kapitalismus‘ ausmache. Ausgegangen wurde dabei – wie das bislang in  weiten Teilen der Linken ohnehin üblich war – von Karl Marx und dessen  „Kritik der politischen Ökonomie“. Zuerst gebraucht wurde der Name  „Wertkritik“ von der Gruppe Krisis, die mittlerweile in der damaligen  Form nicht mehr existiert und um ihr Spaltprodukt „Exit“ erweitert  wurde. Ein wichtiger Name in diesem Zusammenhang ist Moishe Postone, der  sich vor allem um Grundlagenstudien sowie Überlegungen zum Zusammenhang  von Wertvergesellschaftung und Antisemitismus verdient gemacht hat. Ein  Versuch, das Geschlechterverhältnis systematisch in die Wertkritik  einzuweben, liegt von Roswitha Scholz vor1. 
Der Name verrät es bereits: Die Wertkritik stellt in den  Mittelpunkt der Kritik schon die gesellschaftliche Form des Reichtums,  also die Tatsache, dass Reichtum als Wert erscheint. Das hatte die  klassische Arbeiter*Innenbewegung immer voraus- und als positiven  Bezugspunkt gesetzt. Die Wertkritik findet aber schon den Umstand, dass  im Kapitalismus Reichtum als Wert erscheinen muss, der sich dann  wiederum im Geld ausdrückt, einen gesellschaftlichen Skandal. 
Was heißt das nun? Die Grundlage des Wertes – und damit des  gesellschaftlichen Reichtums im Kapitalismus – ist die Arbeit. Arbeit  meint dabei aber nicht menschliche Tätigkeiten generell und überhaupt,  sondern die Tätigkeiten, die sich auf den Reproduktionsprozess des  Kapitals beziehen - die also im Zusammenhang von Lohn und Geld stehen,  also der Warenproduktion dienen. Arbeit und Wert bilden so einerseits  eine ganz besondere und nur für den Kapitalismus gültige Form von  Gesellschaftlichkeit.   
Mit der Entstehung des Kapitalismus ändert sich die Form, in der  gesellschaftliche Herrschaft vonstatten geht. Bis dahin waren es oft  persönliche Abhängigkeitsverhältnisse, die darüber entschieden, wer  wieviel vom gesellschaftlichen Reichtum abbekommt. Im Kapitalismus sind  die Menschen nicht mehr direkt über solche Abhängigkeitsverhältnisse in  Beziehung gesetzt, sondern indirekt über den Wert – und damit eben über  eine versachlichte Struktur von Arbeit und Geld, die sich ihnen  gegenüber verselbständigt. 
Der Wert kriegt so also eine doppelte Funktion: Einerseits ist er  die gültige Form, in der sich gesellschaftlicher Reichtum ausdrücken  kann. Andererseits übernimmt er aber auch die Vermittlung der  gesellschaftlichen Beziehungen. Das sieht in etwa so aus: 
Der Wert ist nichts weiter als die in einem Produkt verausgabte  gesellschaftlich notwendige Arbeit. Das hat zur Folge, dass es bei der  Produktion nicht in erster Linie um konkrete Gebrauchsgüter geht. Wenn  allein die verausgabte menschliche Arbeit als Gradmesser für Reichtum  zählt, dann erscheinen die von dieser Arbeit hergestellten  Gebrauchsgegenstände als notwendiges Übel. "Leider" notwendig, denn wenn  niemand etwas von ihnen hätte, ließen sie sich nicht verkaufen.  Hauptsache: Es wird produziert, egal ob das dann Schokotörtchen oder  Panzer sind. Die Verausgabung von Arbeit wird damit zum Selbstzweck. Das  ist es dann, was laut Marx und der Wertkritik das Kapital ausmacht:  Geldvermehrung als Selbstzweck. Aus Geld mehr Geld machen, aus einem  Euro drei. Nur wo dieser Prozess gelingt – wo Kapital also in der Lage  ist, Profit aus der Anwendung der Ware Arbeitskraft zu schlagen -,  funktioniert dann der Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion. 
Diesen Prozess haben die Menschen zwar durch ihr Handeln in Gang  gesetzt, sie können ihn aber nicht wirklich kontrollieren. Ein bisschen  ist das so wie bei dem berüchtigten Zauberlehrling, der die Geister, die  er rief, nicht mehr los wird. Die Menschen sind eben nicht direkt  zueinander in Beziehung gesetzt, sondern nur vermittelt über die  Gegenstände, die sie produziert haben. So kommt es dann, dass die  gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen die Form eines  Verhältnisses von Sachen annehmen. Ihre eigenen Verhältnisse werden  sachlich, und die Sachen (also die von ihnen hergestellten Gegenstände)  und ihre Beziehungen untereinander kriegen plötzlich Gewalt über sie. 
 

 
 
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