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Anforderungen und Grenzen emanzipatorischer Selbstorganisations- und Freiraumpraxis
Dieser Text ist auch als Broschüre erhältlich, die als PDF-Dokument hier heruntergeladen werden kann.
Freiräume, als Teil politischer Praxis, sind in der Linken heiß umstritten.
Auf der einen Seite wird eine unmittelbare Gesellschaftsveränderung durch eigenes individuelles Verhalten angestrebt. Durch eine Umstellung der Lebensgewohnheiten, über die die eigene Existenz jenseits von Markt und Staat organisiert werden soll (etwa durch Containern, Hausbesetzungen etc.), soll eine individuelle Überwindung der kapitalistischen Zwänge erreicht werden. Dass diese Vorstellung, der Ausstieg aus der kapitalistischen Verwertungslogik könne allein durch Containern vollzogen werden, sehr schnell an ihre Grenzen stößt, wird deutlich, wenn mensch sich die Bedingungen ansieht, unter denen die weggeworfenen und containerten spanischen Tomaten von prekarisierten Migrant*Innen geerntet werden.
Auf der anderen Seite lehnen Leute Freiraumkonzepte ab, da sie diese nur als Projekte begreifen, die die gesamtgesellschaftliche Situation nicht verändern. Eine „wirkliche“ Veränderung sei nur durch eine schlagartig vollzogene Aktion möglich, welche die Gesellschaft als Ganzes überwindet. Eine solche Umwälzung würden sie dann Revolution nennen. Aktivist*innen, die sich in Freiraumprojekten engagieren, wird von dieser Position aus vorgeworfen, eine Praxis ohne Theorie, oder im besseren Falle noch eine Praxis wider die Theorie zu machen. Sie würden sich aus der wirklich wichtigen, revolutionären Praxis herausziehen.
Das mit der Revolution ist allerdings nicht ganz so einfach, wie viele lange Zeit gedacht haben. Nicht nur mutet das Bild aus dem 19. Jahrhundert, in dem ein Haufen kühner Recken mit dem Gewehr im Anschlag das Rathaus stürmt, um dann im Anschluss an erfolgreich vorgenommene Liquidierungen die neue Fahne zu hissen, anachronistisch an. Es ist auch nicht nachvollziehbar, wie sich Denken und Verhalten von Menschen grundlegend innerhalb eines Tages verändern sollen. Bis in die 1970er Jahre war dieses Bild vom heroischen Freiheitskämpfer in der Linken dominant. Auch heute noch zeugen "Che Guevara"-Shirts und ein unsäglicher autonomer Militanzfetisch von dieser recht simplen Sicht auf die Welt, in der Gut und Böse sich auf zwei sauber getrennten Seiten der Barrikade aufstellen und um das Wohl und Wehe der Welt kämpfen.
Eine Praxis, die auf gesellschaftliche Veränderungen zielt, muss daher die Beschränktheit beider Positionen berücksichtigen, ohne die berechtigte Kritik an der jeweils entgegengesetzten Position auszusetzen. Einen Versuch, die Umrisse einer solchen Position zu skizzieren und erste Implikationen für alternative linke Praxis anzureißen, legen wir hiermit vor.
„Alles für alle und zwar umsonst“
... ist leichter gesagt als getan. Oder kannst Du Dir vorstellen, wie das funktionieren soll? Zu viel, was da vorher geklärt werden müsste. Wo es herkommt beispielsweise, dies „alles“, wo und wie es produziert wird. Oder wie kommt es von dort zu Dir? Und wie zur Henkerin kommt die unüberschaubare Masse von Vorprodukten an den Ort, an dem das, was Du brauchst, letztendlich hergestellt wird? Und sowieso, warum sollte jemensch diese Vorprodukte überhaupt produzieren? Braucht es da nicht vielfältige Absprachen und Vereinbarungen? Fragen über Fragen.
Und so scheint es dann oberflächlich betrachtet doch eher unwahrscheinlich, dass sich so etwas wie „Alles für alle“ mal umsetzen ließe – von den Problemen, mit herrschenden Verhältnissen und der gesellschaftlichen Marginalisierung emanzipatorischer Kräfte konfrontiert zu sein, mal ganz abgesehen. Was dieses pessimistische Bild richtig benennt, ist zunächst einmal, dass "Alles für alle" sicherlich nicht als Sprung ins kalte Wasser funktionieren wird. Wir können nicht von jetzt auf gleich aus der falschen Gesellschaft aussteigen, um dann "im Kommunismus" alles richtig zu machen, was sich eben von alleine ergeben würde und irgendwie auf der Hand läge. Da liegt, realistisch betrachtet, gar nichts auf der Hand, sondern es tun sich eher Fragen auf, auf die wir suchend eine Antwort finden können. Nicht mehr. Aber immerhin das.
Wir können also nicht von einem gesellschaftlichen Zustand in den anderen springen. Zu viele Entscheidungen, die wir treffen müssten, werden derzeit noch von den herrschenden Institutionen (Staat, Markt, Patriarchat) übernommen. Dabei ist es beileibe nicht so, dass Menschen diese Entscheidungen nicht selber treffen könnten. Es wurde uns nur von Geburt an antrainiert, uns nicht selber darum zu kümmern. Dass Mama für den Abwasch zuständig ist, Papa wochentags arbeiten geht und samstags in der Einfahrt das Auto wäscht, haben wir mit der sprichwörtlichen Muttermilch aufgesogen. Wir lernen dergleichen über praktische Anschauung oder alltägliche Redewendungen, wie etwa der von der Muttermilch, die ebenfalls im Universum patriarchaler Arbeitsteilung zu Hause ist: Sie legt nahe, dass es die Aufgabe der Frauen sei, sich um die ‘Aufzucht der Brut‘ zu kümmern.
So ist es zur Selbstverständlichkeit geworden, es anderen Leuten oder gesellschaftlichen Konventionen zu überlassen, sich um unsere Bedürfnisse zu kümmern oder Entscheidungen für uns zu treffen.
Hieran lässt sich der Unterschied von Fremd- und Selbstorganisation deutlich machen: Nicht wir organisieren unser Leben, es wird für uns organisiert. Oder besser: Es organisiert uns. Müssten oder wollten wir es anders machen, wüssten wir schlichtweg nicht, wie wir all das anstellen sollten. Denn es geht ja nicht nur um die Frage der Verteilung, sondern auch um die Frage, zu welchem Zweck technologische Potenziale genutzt werden und auch darum, wie sich die bisherigen, herrschaftsförmigen Zwecke in diese eingeschrieben haben. Die Aneignung dieser Potenziale hat also zwei Seiten: Einerseits wollen wir nicht hinter die technischen Möglichkeiten des industriellen Kapitalismus zurückfallen, andererseits ist die reale Nutzung dieser Technologien mit der kapitalistischen Verwertungslogik und dem ihr inhärenten Zerstörungspotenzial verwoben, so dass es keine unkritische Aneignung dieser Technologien geben kann. Selbstorganisation ist also ein voraussetzungsvolles Unterfangen, das nicht von heute auf Morgen umsetzbar ist und mit dem Erproben von Möglichkeiten und dem selbstreflexiven Vortasten in noch unbekannte Gefilde verbunden ist.
Jeder Anfang ist prekär!
Aus diesem Grund ist die Idee der Revolution innerhalb großer Teile der Linken in den letzten Jahren auch mehr und mehr durch die der „emanzipatorischen Transformation“ abgelöst worden. Weniger der einmalige radikal-negierende Akt steht im Mittelpunkt radikaler Politik, als vielmehr der mühsame und beständige Weg aus dem falschen Ganzen heraus.
Um den Weg der Transformation zu gehen, können wir nicht am Ende anfangen. Die ersten Schritte werden schwankend und prekär – oder gar nicht – sein. Es braucht mithin eine Reihe von Projekten, mit denen wir losgehen können in Richtung einer Gesellschaft jenseits von Tausch, Wertvergesellschaftung, Staat und Nation, aber auch jenseits von Patriarchat und heterosexistischer Begehrensordnung. Wir brauchen diese Projekte, damit wir Erfahrungen sammeln können im Umgang mit freier Kooperation, mit Organisations- und Entscheidungsfindungsverfahren und mit der Bekämpfung der vielfältigen Ideologien, die wir alle so verinnerlicht haben - aber auch, damit wir Strukturen aufbauen können, die tatsächlich tragfähig sind und in denen Absprachen verlässlich und verbindlich getroffen werden können, also vorsichtige Antworten auf die banalen Fragen materieller Reproduktion gefunden werden können.
Diese Projekte sind niemals perfekt. Sie sind noch nicht das Richtige außerhalb des Falschen, sondern lediglich ein Versuch, sich aus dem Falschen herauszuwinden. Trotz allem können sie – wie marginal auch immer – erste Hilfestellungen sein für eine herrschaftskritische Organisierung im Hier und Jetzt.
Damit sind sie aber immer auch prekär im schlechtesten Sinne des Wortes. Sie stehen auf wackeligen Beinen und sind in ihrem Bestand nicht gesichert. Veränderte Kräfteverhältnisse, mangelnde Aufmerksamkeit und gezielte Aktionen der gesellschaftlichen Eliten können ihnen jederzeit den Garaus machen. Darüber hinaus sind die Projekte, da sie Verhaltensweisen erfordern, die im patriarchalen Kapitalismus nicht zum Standard gehören – worauf später noch eingegangen wird – für die Beteiligten stets heikel und schwierig. Sie wissen oftmals nicht, wie die vielfältigen Probleme bewältigt werden können und wie sie selber sich verhalten sollen.
Trotz dieser Schwierigkeiten gibt es eine Vielzahl solcher Projekte. Es können Umsonstläden oder Infoläden sein; es können Nutzer*Innengemeinschaften sein oder auch selbstverwaltete Räume. Was solche Projekte für die gesellschaftsverändernden, emanzipatorischen Bewegungen bedeuten, wollen wir im folgenden umreißen.
You are not what you are – Individuum und Gesellschaft
Dabei stehen derartige Projekte vor grundsätzlich widersprüchlichen Anforderungen. Einerseits haben sie es stets mit Subjekten zu tun, welche die Logiken von Wert und Patriarchat verinnerlicht haben. Das gilt für alle Menschen in der modernen Gesellschaft und schließt auch die Autor*Innen dieses Papiers keinesfalls aus. Diese Subjekte existieren und handeln ihr Leben lang als „vereinzelte Einzelne“, deren Gesellschaftlichkeit eine ungesellschaftliche ist. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen und haben in erster Linie ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse zu bedenken und voranzubringen. Für das Nebeneinanderherleben der vereinzelten Individuen hat sich in der Kritischen Theorie der Begriff der „Monade“ eingebürgert. Adorno und Horkheimer beschreiben in der "Dialektik der Aufklärung" die Monade als "bloßen Bezugspunkt" bürgerlichen Lebens, der unterscheidet zwischen dem Ich und der "Masse aller Dinge und Kreaturen draußen". Dabei wird diese Monade stets als männlich konstituiert, was im Fortgang der Argumentation noch näher zu betrachten sein wird.
Dabei gibt es diesen scheinbar fehlenden Zusammenhang durchaus, er fällt nur nicht ins Auge. Er ist in weiten Teilen darüber organisiert, dass Menschen auf private Rechnung Waren produzieren und diese Waren dann miteinander in Beziehung setzen. Auch wenn sie das nicht wirklich alleine machen, sondern im Rahmen von Fabriken durchaus gemeinsam, so besteht doch kein direkter Zusammenhang zwischen der einen und der anderen Produktion. Im Tausch wird dann das, was als vermeintlich getrenntes existiert, zusammengebracht. Die Menschen sind zwar vergesellschaftet, allerdings über ein bewusstloses Prinzip. Sie haben kein Verständnis und kein Bewusstsein davon, dass sie nicht alleine sind, sondern in Arbeitsteilung mit- und füreinander produzieren. Das kommt in der oben zitierten Formulierung von Adorno und Horkheimer sehr treffend zum Ausdruck: Es gibt auf der einen Seite die Monade, auf der anderen die "Welt da draußen".
Diese tagtägliche Erfahrung im Arbeitsleben überträgt sich auch auf andere gesellschaftliche Bereiche. Schon in der Schule und, durch BA und Studiengebühren mittlerweile verstärkt, auch an den Universitäten, treten sich die Menschen als Monaden entgegen, die hier in Konkurrenz zueinander gesetzt werden und so erst auf Grundlage dieser Form von gesellschaftlicher Beziehung ihre scheinbar unversöhnlich gegeneinander gerichteten „Interessen“ ausbilden.
Der andere Teil ihrer Vergesellschaftung, der oft in familienartigen Strukturen vor sich geht (auch wenn er nicht ausschließlich dort zu finden ist), wird ebenfalls nicht als Gesellschaftlichkeit wahrgenommen, sondern ins Private abgedrängt. Dass über diese Verdrängungs- und Abspaltungsprozesse es gerade Frauen sind, an denen Tätigkeiten wie Fürsorglichkeit, Pflege, Herstellen sozialer Verbindlichkeit und Wärme etc. hängen bleiben, fällt dabei oftmals gar nicht mehr auf. Für die hier diskutierten Transformationsprojekte spielt diese Erkenntnis jedoch eine wesentliche Rolle, da es auch hier oftmals die Frauen sind, die dann am Ende für diese Tätigkeiten zuständig sind – auf die eine oder andere Weise.
Die Lebenspraxis der Menschen als patriarchal geprägte Warenmonaden schlägt sich in der Art und Weise nieder, wie diese über ihre Umgebung denken. Sie nehmen sich so wahr, als hätten sie nichts mit dem Rest der Welt zu tun. Schuld sind immer die anderen, individuelle Verantwortung kann problemlos abgeschoben werden. Ohnehin ist der Anteil des eigenen Verhaltens am weltweiten Elend derart gering, dass sich da auf unmittelbarem Wege nur sehr wenig ausrichten lässt. In emanzipatorisch-transformatorischen Projekten stellt diese Subjektivität allerdings ein Problem dar. Denn die direkt dem warenproduzierenden Patriarchat entspringenden Subjektkonstellationen verhindern tendenziell Selbstorganisationsprozesse.
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