„Da geht es eben nicht um die sinnvolle Tätigkeit an sich, sondern erstmal um Jobs, Jobs, Jobs“
(Dieses Interview erschien in einer gekürzten Fassung in der Ausgabe 55 der junggrünen Zeitschrift Igel)
Moritz von der Grünen Jugend Gö war zu Besuch bei der radikal antikapitalistischen Theorie-Gruppe mit wert- und wertabspaltungskritischem Ansatz 180 Grad in Göttingen. Nach dem er sich als Jung-Grüner selber ein paar Fragen über Angriffskriege gefallen lassen musste, hatte er die Gelegenheit, den Theoretiker*Innen auch ein paar grundsätzliche Fragen zu ihrem Spezialgebiet für den IGEL zu stellen. Letztlich hat der sich doch in der emanzipatorischen self-made Atmosphäre sehr wohl gefühlt – und viele spannende Einblicke gewonnen.
IGEL: Ihr heißt 180° und meint damit wohl die Umkehrung der Verhältnisse. Trotzdem wollt ihr keine Revolution machen, sondern "Emanzipatorische Transformation". Das klingt jetzt ganzschön langatmig. Wollt ihr nicht doch in eine Partei eintreten?
Kim: Ich glaube ja, dass es zu einfach ist zu meinen, dass man einfach eine Revolution bräuchte oder einen Akt bei dem es "Ums Ganze" ginge und danach wird dann alles besser. Das geht ja immer davon aus, man müsste nur mit der Kalaschnikow aufs Rathaus zu robben um dann die schwarz-rote Fahne zu hissen und danach wäre alles besser. Nur wäre es dann ja so, dass wir danach auch nicht wissen würden, wie es weiter geht und die Leute draußen erst recht nicht. Also müsste es darum gehen auch im Hier und Jetzt schon Sachen auszuprobieren und Verhältnisse zu analysieren. Außerdem gehen Revolutionsvorstellungen davon aus, dass, wenn man den Staat übernimmt, schon alles besser werden würde. Damit haben solche Vorstellungen durchaus Ähnlichkeiten zu Parteien - auch wenn das beide Seiten nie richtig zugeben würden. Ich glaube, so einfach ist es eben nicht, dass es eine Schaltstelle der Macht gibt, sondern wir sind vielmehr in ein komplexes Netz von Herrschaft und Unterdrückung verknubbelt, das wir sogar selber mit stricken, ohne es zu wissen und oft auch ohne es zu wollen. Das heißt, es muss jetzt schon darum gehen Herrschaft zu analysieren einerseits, gleichzeitig Widerstand gegen Unterdrückung zu leisten und im Hier und Jetzt schon Alternativen aufzubauen.
IGEL: Ich mag ja linksradikale Gruppen meistens, obwohl ich so ein Jung-Grüner bin. Wisst ihr was mich nervt ist nur, egal auf was für eine linke Demo man heute so geht, immer ist irgend ein*E Linksradikale*R da, die*der wieder so‘n "Kapitalismus abschaffen"-Transpi mit sich rumtragt. Ist Kapitalismuskritik bei euch nicht ein bisschen zu omnipräsent?
Michel: Naja, Kapitalismus ist halt omnipräsent! Nur ist er so selbstverständlich geworden, dass es gar nicht mehr auffällt und dann eben das "Kapitalismus abschaffen" Transpi mehr auffällt, als der Kapitalismus selbst. Natürlich wollen wir nicht nur Schilder hochhalten, sondern uns mit den konkreten Problemen beschäftigen, dabei darf die Kritik nur nicht zu kurz gehen. Wir wollen uns eben z.B. nicht nur vor den Castor stellen und ein "Stopp Castor" Schild hochhalten, sondern das konkrete Problem zusammen denken mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, um auch die Bedingungen, die so einen Atom-Irrsinn möglich machen, überhaupt angreifen zu können. Ansonsten wäre ja überhaupt keine Intervention möglich, die einen Effekt erzielt.
IGEL: Ihr argumentiert bei eurer Kapitalismusanalyse ziemlich stark mit Marx. Der hat aber zur Blütezeit eines ausufernden Industriekapitalismus geschrieben. Heute ist 150 Jahre später und der Kapitalismus hat sich gewandelt. Wäre es nicht an der Zeit, dem veränderten Funktionieren des Kapitalismus auch neue Analysen gegenüber zu stellen?
Francois: Ja und Nein. Ja, weil sich natürlich seit Marx eine ganze Menge geändert hat. Auf der anderen Seite hat Marx aber nicht den Anspruch gehabt, den zeitgenössischen Kapitalismus vor seiner Nase zu beschreiben, sondern den Kapitalismus in Reinform. Also die allgemeinen Gesetze, die immer dann gelten, wenn wir Kapitalismus haben. Und da wir unglücklicherweise immer noch Kapitalismus haben, sind nun mal auch nicht alle Sachen, die Marx darüber geschrieben hat, vom Tisch gewischt. Was sich natürlich verändert hat sind die Art von sozialen Auseinandersetzungen und die Art, in der die Welt von den Menschen im Kapitalismus wahrgenommen wird. Z.B. war zu Marx‘ Zeiten Klassenkampf noch eine ziemlich angesagte Sache unter der sich die Leute auch was vorstellen konnten - viele waren in Fabriken beschäftigt und standen etwa in direkter Abhängigkeit von ihrem Chef. Na und heute gibt es eben ganz andere Jobs, alle sind ihr eigener Chef und wissen nicht mehr so richtig, gegen wen sie eigentlich aufbegehren sollen, oder sie sind prekär beschäftigt und zu einfach austauschbar, als dass sie sich das Aufbegehren leisten könnten. Da braucht es eben neue Formen von Auseinandersetzungen, die man führen kann, statt so einer alten Klassenkampfmethode. Trotzdem haben wir es noch mit Kapitalismus zu tun und müssen den eben auch als solchen analysieren.
IGEL: Gibt es dann sowas wie "den Kapitalismus in Reinform" wenn er damals ganz anders funktioniert hat als heute?
Francois: Doch, es gibt schon grundlegende Prinzipien, die immer gleich bleiben.
IGEL: OK, noch mal: kommt der Kapitalismus heute nicht in ganz anderer Form daher, viel subversiver, viel selbstverständlicher als noch in seiner industriezentrierten Zeit? Und ist dann nicht seine Antriebsfeder viel mehr sowas wie die Ausnutzung eines liberalen Denkens? Naja, ihr kennt ja das Klischee: "von der*vom Tellerwäscher*In zur*zum Millionär*In".
Juna: Da würde ich dir erst mal bis zu einem gewissen Maße Recht geben. Es ist ja so, dass dem Großteil der Menschen eben nicht mehr die*der Fabrikbesitzer*In direkt gegenüber steht und sie*er merkt wie sie*er ihre*seine Zeit verkauft. Sondern Menschen sind dem Markt jetzt viel direkter ausgesetzt, indem sie sich als Selbstunternehmer*Innen sehen und ihre Eigenschaften möglichst persönlich gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt verkaufen. Da dieses Verhältnis schon so alt ist, ist es schon viel naturalisierter für die Menschen. Die nehmen das gar nicht mehr als etwas Schlechtes wahr, sondern als etwas, mit dem sie ganz ursprünglich aufgewachsen sind, was sie aber trotzdem total viel Kraft kostet. Das führt im Endeffekt dazu, dass die Verdinglichung zunimmt und die Menschen individualisierter werden. Letztlich nehmen psychische und auch physische Krankheiten zu. Die Qualität von Ideologien verändert sich, wie Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und Nationalismus.
IGEL: Könnte man dann von etwas wie einer Internalisierung des "Kapitalistischen Prinzips" sprechen?
Juna: Ja, das würde ich sagen - mit allen negativen Effekten, die damit einhergehen. Gerade dass sich die Menschen damit schlechter fühlen, ohne zu wissen wieso sie sich eigentlich schlechter fühlen. Das kann man ganz oft beobachten anhand von psychischen Erkrankungen z.B.
IGEL: Soweit ich weiß ist euer Ansatz ein "wertkritischer", letztlich also eine Fundamentalkritik
Könnt ihr kurz erklären was das heißt?.
Toni: Der Begriff Wertkritik bezieht sich erst mal auf Marx‘ Kapitalismuskritik. In der traditionellen Lesart ist erst der sogenannte Mehrwert der Gegenstand der Kritik. D.h. Menschen arbeiten und schaffen dadurch Reichtum und das drückt sich dann in Wert aus. Dass der aber hauptsächlich an Unternehmen geht, das ist der größte Kritikpunkt; dass manche Produktionsmittel haben und manche halt nicht und übel schuften müssen, das wäre der Hauptwiderspruch. Die Wertkritik sagt, das ist nicht das Hauptproblem. Sondern: Es fängt schon in den Elementarformen an, in denen der Kapitalismus grundsätzlich funktioniert, nämlich dass Reichtum sich nicht einfach in ganz vielen, tollen, nützlichen Dingen darstellt, sondern dass Reichtum in einer besonderen Form, nämlich in Form von Waren auftritt. Also nur in Form von Sachen, die sich gegeneinander austauschen lassen. Das ist die Besonderheit im Kapitalismus: egal was du produzierst, es wird erst mal produziert, um es zu tauschen. Und dabei ist es auch erstmal egal, welchen Inhalt das Produkt hat, der alltägliche Unsinn im Kapitalismus ist ja, dass du Schokotörtchen gegen Rheumapflaster und auch Panzer tauschen kannst. Da werden völlig verschiedene Dinge miteinander in Beziehung gesetzt und gegeneinander getauscht, weil sie ein gemeinsames hätten: den ‘Wert‘.
Das finden wir erst mal ziemlich blöd. Dabei wird auch immer mehr Natur zerstört. Außerdem sind menschliche Bedürfnisse dabei total sekundär. D.h. Menschen verrichten nicht sinnvolle Tätigkeiten um sich gegenseitig Sachen bereit zu stellen und weil sie irgendetwas brauchen, sondern es geht erst mal nur um ‘Jobs, Jobs, Jobs‘. So haben es ja auch die Grünen auf ihren Plakaten zur Bundestagswahl gehabt. Da geht es eben nicht um die sinnvolle Tätigkeit an sich, sondern darum, dass erst mal alle arbeiten, um Geld zu verdienen, egal wie schlecht die Bedingungen sind. Nicht nur, dass das ganze mit Rassismen einhergeht, das hat auch noch eine zweite Seite der Medaille. Die kann man als Wertabspaltung verstehen. Damit meinen wir, dass - um so eine Wirtschaftsweise zu gewährleisten – erst mal ein abgespaltener, allgemein abgewerteter Bereich Voraussetzung ist und der ist weiblich konnotiert und wird auch traditionell an Frauen delegiert. Da gibt es dann sowas wie patriarchale Arbeitsteilung, mit Hilfe der so moderne Warensubjekte oder Arbeitskräfte erst mal aufgepäppelt und erzogen und geboren werden und etwa Pflege und Kindererziehung immer noch hauptsächlich an Frauen delegiert wird. Das alles zusammen empfinden wir als ziemliche Zumutung. Wir glauben auch nicht, dass eine Partei oder ein Staat es sinnvoll für Menschen einrichten kann, sondern dass wir es selber in die Hand nehmen müssen; Stichwort Selbstorganisation. Üblicherweise wird ja unser Leben eher für uns organisiert und wir machen es eben nicht selbst. Wir wollen auch ein Verständnis von Emanzipation, dass ‘die Befreiung‘ nicht von außen kommt und verordnet wird, sondern wir überlegen uns das eben selber. Das ist auch keine Privatsache, wie es in Teilen der Ökobewegung war.
Francois: Damit ist dann vielleicht auch die Frage beantwortet, was man als eine Art Kapitalismus in Reinform beschreiben kann. Also diese Prinzipien, die Toni da eben erklärt hat, gelten halt immer für Kapitalismus, genauso im neunzehnten Jahrhundert zu Marx Zeiten wie heute auch noch. Da kann man sich auf den Kopf stellen und mit den Beinen wackeln, solange wir Kapitalismus haben, haben wir einfach das Problem, dass wir Sachen kaufen und verkaufen müssen - und unser Leben darüber ziemlich stark dominiert wird, wenn auch für jede*N auf eine andere Art und Weise.
IGEL: Das hieße dann letztendlich, der Grundtatbestand von Kapitalismus ist Markt. Sehe ich das richtig?
Toni: Ich glaube es wären eher solche Kategorien wie Ware, Wert, Lohnarbeit, Tausch.
IGEL: Aber es gibt keinen Kapitalismus ohne Markt?
Francois: Also du hast insofern Recht würde ich sagen, weil der Markt ja die Instanz ist die festlegt, was für Dinge wir kriegen und was für Dinge wir herstellen. Unser ganzes Leben ist darüber organisiert, dass wir nicht an die Dinge ‘ran kommen und diese Vermittlungsinstanz brauchen. In den realsozialistischen Ländern mit der Planökonomie gab es eine andere Instanz, da gab es nämlich den Plan. Der hat letztlich versucht das gleiche zu koordinieren. Das hat genau so wenig funktioniert, wie der Markt funktioniert, vielleicht sogar noch weniger. Da kommt es mir auch gar nicht drauf an. Letztlich ist es auch nur eine andere Art und Weise gewesen das Problem zu organisieren. In so fern gibt es theoretisch auch andere Lösungen, aber die funktionieren halt genau so wenig und machen halt auch alle keinen Spaß.
IGEL: Habt ihr eigentlich einen Masterplan zur Überwindung des Kapitalismus? Oder wird das nix mehr mit der Überwindung, weil wir inzwischen erkennen mussten, dass der Kapitalismus so fundamental verwurzelt ist, dass wir ihn einfach nicht weg kriegen und jetzt halt lernen müssen, mit ihm umzugehen?
Francois: Toni hat das ja eben schon so ein bisschen erwähnt. Das Problem, vor dem wir stehen, ist ein Stück weit jenes, dass wir unser eigenes Leben nicht selber organisieren dürfen, sondern unser Leben für uns organisiert wird. Und unter Emanzipation verstehen wir, dass Menschen anfangen sich ihr Leben selber zu organisieren. Wenn wir ihnen jetzt einen Plan vorgeben würden, nach dem sie das abzuarbeiten hätten, dann wäre das selber eine ziemlich autoritäre Sache, weil wir ihnen quasi vorschreiben würden, wie sie nach der Revolution zu leben haben. Das wäre jetzt nicht unser Plan. Was wir aber schon glauben ist, dass es wichtig ist, dass die Menschen ihre Geschichte in die eigene Hand nehmen und nicht auf irgendeine ominöse Weltrevolution warten, die irgendwann kommt oder auf die Partei, die sie errettet. Deswegen ist es wichtig, schon im Hier und Jetzt anzufangen einzelne Projekte anzugehen, in denen Arbeiten und Leben so organisiert sind, dass sie mit dieser herrschenden Logik - mit Ware, Geld, Kapital und Arbeit, so wie vorhin beschrieben - dass diese Projekte mit dieser Logik brechen. Bspw. Sachen wie Umsonst-Läden.
Juna: Ich finde es dabei noch wichtig zu erwähnen, dass unser Leben zwar für uns organisiert ist, aber das niemand persönlich für uns macht. Sondern da verselbstständigen sich Sachen gegenüber uns, die wir nie bewusst geschaffen haben, die aber eben existieren. Also geschaffen haben wir sie schon, aber eben nicht bewusst.
IGEL: Ich danke euch, dass ihr mir einen ersten Einblick gegeben habt. 180°: Bitteschön.
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