Für den Stammtisch ist der übelste Schurke im Land nicht der Denunziant, sondern der Spekulant. Das „Spielkasino“ des Finanzkapitalismus wird seit langem für alle ökonomischen und sozialen Krisenerscheinungen verantwortlich gemacht. So ist der Banker zum Prototyp des verantwortungslosen Zockers geworden und gilt als Feind Nummer Eins aller wohlanständigen Spießbürger. Dasselbe Bewusstsein kann aber dem industriellen Kapitalisten, der sich nicht im luftigen Finanzüberbau herumtreibt, sondern materielle Dinge produzieren lässt und dabei Arbeitsplätze benötigt, sehr viel Gutes abgewinnen. Man kritisiert nicht den Kapitalismus überhaupt, sondern möchte zwischen unseriösen finanziellen Glücksspielen und bodenständiger Realwirtschaft unterscheiden.
Aber ist das realwirtschaftliche Kapital mit seiner materiellen Basis wirklich so fern vom spekulativen Denken? Auch der industrielle Profit steht nicht von vornherein fest, sondern muss in der Konkurrenz erst gewonnen werden. Weil es keine gemeinschaftliche Planung der gesellschaftlichen Produktion gibt, weiß kein Unternehmen, ob es seine Waren überhaupt absetzen kann. Also ist auch die materielle Produktion ein Risikospiel auf dem Feld der universellen Konkurrenz und der realwirtschaftliche Manager ebenso ein Zocker wie der Investment-Banker. Nur der Einsatz ist ein anderer: nicht papierene Finanztitel, sondern Maschinen, Rohstoffe und Menschen.
Lange Zeit wollte die Wirtschaftswissenschaft die Risiko-Konkurrenz nicht mit dem Denkbild des Glücksspiels in Verbindung bringen. Entsprechende Versuche, die mathematische Spieltheorie auf das ökonomische Verhalten anzuwenden, kamen nur von Außenseitern. Erst 1994 erhielten John F. Nash (Princeton), John C. Harsanyi (Berkeley) und Reinhard Selten (Bonn) den Nobelpreis als Vertreter der ökonomischen Spieltheorie. Diese veränderte Wahrnehmung hat nicht nur etwas mit der postmodernen Mentalität zu tun, die alles und jedes in ein „Spiel“ verwandeln möchte. Es handelt sich ebenso wenig bloß um einen ideologischen Reflex der Finanzblasen-Ökonomie seit den 1980er Jahren. Vielmehr hat sich auch der Risiko-Einsatz in der industriellen Realwirtschaft drastisch verändert.
Trumpf im Spiel der Konkurrenz ist bekanntlich die betriebswirtschaftliche Kostensenkung. In der Realwirtschaft geht es dabei auch in einem höchst materiellen Sinne um Risikobereitschaft. Das betrifft nicht zuletzt die Sicherheitsstandards im Umgang mit gefährlichen Naturstoffen und Verfahren. Der im Krisenkapitalismus verschärfte Konkurrenzdruck hat längst diesen sensiblen Bereich erfasst. Die Kehrseite derselben Entwicklung ist der Einsatz immer größerer Aggregate der Produktion und immer weniger ausgereifter und kontrollierter Techniken. So war die riesige Ölpest im Golf von Mexiko 2010 nach dem offiziellen Untersuchungsbericht auf eine rigide betriebswirtschaftliche Strategie der Zeit- und Kostenersparnis bei dem beteiligten Unternehmens-Konglomerat zurückzuführen. Dieselbe Politik ist bei der japanischen Atomkatastrophe zu Tage getreten; ganz davon abgesehen, dass die Atomenergie an sich schon unbewältigbare Risiko-Belastungen mit sich bringt.
Die Finanzspekulanten spielen wenigstens bloß mit Papier, die großindustriellen Zocker mit der Natur, mit dem Leben und der Gesundheit von Menschen. Wer ist verantwortungsloser? Die Kette der betriebswirtschaftlich verursachten industriellen Katastrophen ist in den letzten 30 Jahren genauso dicht geworden wie die Kette der Finanzkräche. Und die nächste kommt bestimmt. The game must go on.
erschienen im Neuen Deutschland
am 04.04.2011
am 04.04.2011
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