Nachträglich ausgearbeitetes Manuskript eines Referates, gehalten am 16.12.2005 auf der Tagung "Kritische Gesellschaftstheorie(n) und emanzipatorische Praxis heute" an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg
Der Fetischcharakter, gesellschaftlich notwendiger
Schein, ist geschichtlich zum Prius dessen geworden,
wovon er seinem Begriff nach das Posterius wäre. [...]
Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik
und umgekehrt.
Schein, ist geschichtlich zum Prius dessen geworden,
wovon er seinem Begriff nach das Posterius wäre. [...]
Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik
und umgekehrt.
Theodor W. Adorno, Zu Subjekt und Objekt
Vorbemerkung
Die in meinem Referat gemachten Bemerkungen zur dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehung der Moderne und die Bestimmung des ebenfalls modernen Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis sind notwendigerweise thesenhaft und fragmentarisch, was im Sinne einer kritischen Theorie der Sache durchaus angemessen ist, aber an dieser Stelle gleichzeitig unzureichend, um dem Thema genüge zu tun. Das gilt insbesondere für die schwierige Erfassung der geschlechtsspezifischen Bedingtheit des Komplexes. Diese soll wenigstens an einigen Stellen angedeutet werden und verweist selbst auf Brüche und Baustellen innerhalb der eigenen Theoriebildung.
Einleitung
Mein Beitrag zur Tagung "Kritische Gesellschaftstheorie(n) und emanzipatorische Praxis heute" will grundsätzliche Überlegungen zu Erkennen und Handeln des modernen Individuums anstellen; dies geschieht – mit Blick auf die Frage der Tagung nach "emanzipatorischer Praxis" – auch in der Absicht, Ansatzpunkte für eine "radikale Abschaffungsbewegung" zu entwickeln.
Die Frage danach, was zu tun sei, gilt gemeinhin als die entscheidende Frage an jedwedes Vorhaben, welches sich die Emanzipation von Herrschaft hin zu Freiheit, Versöhnung und Glück zur Aufgabe gemacht hat. Dass hier Theorie, gar eigene Gedankenanstrengung, irgendwie dazugehört, Stichwortgeber sein soll, ist Allgemeinplatz der Linken. Als Gradmesser jedoch gilt immer die konkrete und praktische Handlungsperspektive. Handlung wird dabei verstanden als die aktive körperliche (von Streik bis "direct action") und/oder kommunikative Anstrengung in (meist) intersubjektiven Akten (Intervention in Diskurse, Aufklärung etc.). Praktische, materielle Tätigkeit eben. Ziel ist das verändernde Eingreifen in gesellschaftliche Abläufe.
In meinem Vortrag und der anschließenden Diskussion soll erörtert werden, wie sich die kapitalistische Moderne durch das dialektische Verhältnis zwischen Theorie/Denken einerseits und Praxis/Handeln andererseits konstituiert und welche Konsequenzen sich daraus für eine emanzipatorische Perspektive ergeben.
Darüber hinaus ist die Veranstaltung Teil eines Aneignungsprozesses der kritischen Philosophie Adornos, in dem auch der Autor sich befindet. Es soll dabei keineswegs um eine apologetische Orthodoxie gehen, sondern um eine Erkenntnis ganz im Sinne Horkheimers und Adornos, dass nur der die Wahrheit erfährt, der "dabei denkt und weiter denkt" (Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung).
Ich beginne mit der Trennung von Theorie und Praxis bzw. Denken und Handeln. Als getrennt sind sie zuerst einmal auch hinzunehmen und sie sind weder zwangsharmonisierend zu vereinen, noch kann versucht werden, jene Trennung unmittelbar aufzulösen. Denn gerade diese Aufspaltung in Theorie und Praxis und deren dialektische Vermitteltheit machen die Einheit im Ganzen aus. Es handelt sich um eine Einheit durch Trennung. Was sich hier ausdrückt, hängt ganz wesentlich mit der widersprüchlichen Konstitution der Moderne zusammen, die auf dem dichotomen, aber reziproken Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt beruht – Dialektik. Dialektik als Verhältnis, als Verhältnis der Moderne, als modernes Verhältnis.
Anzufangen wäre also mit der "angeblich naiven" Ansicht, Objekt stehe Subjekt gegenüber. Die Trennung von Subjekt und Objekt ist jedoch "real und Schein", sie sind "wechselseitig durcheinander vermittelt" (Adorno, "Zu Subjekt und Objekt"); eben in dem Sinne einer Einheit durch Trennung. Der patriarchale herrschaftliche Geist des idealiter männlichen Erkenntnissubjekts usurpiert mit seinem Anspruch der Selbständigkeit und Autonomie das Objekt, er verschlingt oder unterwirft es. Deshalb ist es wichtig, auf die Bedingungen des eigenen Erkennens und Denkens zu reflektieren, ebenso sich bewusst zu sein, dass man selber auch immer Objekt ist.
Im folgenden will ich zunächst jedoch auf die eine "Ebene" – die des Geistes, des Denkens – eingehen, um später dann genauere Ausführungen zu Subjekt und Objekt folgen zu lassen.
Theorie und Praxis
Damit keine Missverständnisse auftreten, vorweg ein Satz dazu, wie ich den Begriff Vermittlung verstehe. Vermittlung ist nicht das dritte neben Individuum und Gesellschaft, sondern das dialektische Verhältnis, Vermittlung ist nicht zwischen ihnen, sondern geschieht jeweils durch sie und geht durch sie hindurch, ist sozusagen bei ihnen. Subjekt und Objekt sind also durcheinander vermittelt, das eine ist nicht ohne das andere.
Ich beginne mit der Feststellung, was Denken und Handeln, Praxis/Theorie heute darstellen, welche Tendenzen zu erkennen sind. Mit Adorno lässt sich dazu sagen: "Während Denken zur subjektiven, praktisch verwertbaren Vernunft sich beschränkt, wird korrelativ das Andere, das ihr entgleitet, einer zunehmend begriffslosen Praxis zugewiesen, die kein Maß anerkennt als sich selbst."
Denken heutzutage ist tautologisch, bezieht sich vermittelt auf sich selbst. Vom hochwissenschaftlichen Theoretisieren - oder auch Phantasieren - bis zum Alltagsverstand, bezieht Denken sich auf von ihm selbst verdinglichte Dinge (näheres hierzu s.u.). Es reproduziert also beständig seine eigene Form. Auch das Erkenntnisproblem als solches (z.B. in der Philosophie) gab es in früheren Epochen so nicht. Die Erkenntnistheorie fragt im Grunde danach, wie das Subjekt aus sich selbst heraus Erkenntnis begründen und damit Wahrheit setzen kann.
Bei der näheren Bestimmung der beiden Begriffe –Theorie und Praxis –, ist der Focus auf Denken/Theorie gerichtet. Jedoch dürfte schon aufgefallen sein, wie wenig sie tatsächlich voneinander zu trennen sind; was nicht heißt, dass sie sich decken, sogar eins wären, sondern sie sind nicht zu trennen, verweisen aufeinander und bedürfen einander: sie sind im oben angeführten Sinne vermittelnd vermittelt.
Zunächst kann festgehalten werden, dass Theorie eine Gestalt von Praxis ist; banal gesagt: Denken ist Tun, auch Anstrengung und nicht ohne ein ihr Korrespondierendes vorzustellen. Denken hat in gewissem Maße einen Doppelcharakter: es ist immanent und stringent und zugleich eine reale Verhaltensweise, somit auch Moment von Praxis. Ähnlich es Praxis als solche auch nicht geben würde, wenn sie nicht gedacht werden könnte.
In Anlehnung an Horkheimers/Adornos "Dialektik der Aufklärung" betrachten wir nun kurz die Funktion des Begriffs: Denken dient als Organ der Herrschaft, zugleich aber auch als Selbstbesinnung; hierfür zentrales Werkzeug ist der Begriff. Begriff meint immer auch, auf den Begriff bringen, identifizieren etc., und dabei heißt Begriffsbildung, sich praktisch mit etwas auseinander zu setzen. Die Funktion des Begriffs für das Subjekt ist dabei, Scharnier zu sein zwischen Theorie und Praxis, die Möglichkeit des Subjekts, sich der Umwelt, den Objekten zu bemächtigen.
In diesem Zusammenhang möchte ich auf Verdinglichung hinweisen: Verdinglichung meint – bezogen auf Denken – begrifflich – menschliches Verhalten, aber auch sog. Natur und andere Gegenstände zu fixieren, festzusetzen, ihrer eigenen Qualität und Eigenständigkeit zu berauben, eben zu verdinglichen. Verdinglichung negiert den Unterschied zwischen Begriff – als "Werkzeug" des Geistes – und dem Gegenstand, sie vereint unwahr/falsch. Zudem: "Das verdinglichte Bewusstsein, das sich verkennt, wie wenn es Natur wäre, ist naiv: sich selbst, ein Gewordenes und in sich überaus Vermitteltes, nimmt es, mit Husserl zu reden, als ‘Seinssphäre absoluter Ursprünge‘, und sein von ihm zugerüstetes Gegenüber als die ersehnte Sache" (Adorno, Zu Subjekt und Objekt).
Der herrschaftliche Geist verschlingt also, bemächtigt sich des Gegenstandes; es kommt nun darauf an, selber zu reflektieren, dass man Objekt ist.
Wenn ich oben für Subjekt und Objekt gesagt habe, dass sie nur durcheinander bestehen, sich gegenseitig bedingen, dann gilt für den Geist/das Selbstbewusstsein des Subjekts, also auch fürs Denken – was die Theorie mit einschließt –, dass eben dieser Geist somit selbständig oder besser selbsttätig und bedingt/vermittelt zugleich ist. Der kritische Geist weiß um seine Bedingtheit, ist sich dieser bewusst! Obwohl es so einfach selbstverständlich auch nicht ist; es reicht nicht, lediglich einmal dieses Wissen zu erwerben; die stete Anwendung, das kritische Reflektieren, das immer neu und wieder – auch methodische – Überprüfen der eigenen Thesen am Objekt und der Erfahrung ist gerade ein Moment von Praxis, bedarf der höchsten Anstrengung und Aufmerksamkeit. Mehr auf Objekt und weniger auf Erfahrung gehe ich später noch kurz ein.
Dadurch, dass die Menschen (tendenziell, nicht absolut!) immer mehr zu Funktionen der Gesellschaft gemacht werden, sich aber auch in einer Art vorauseilendem Gehorsam selber dazu machen – sie werden nicht direkt abhängig oder personal beherrscht –, wird das Subjekt vom Geist damit getröstet, dass jener den Menschen zum Schöpfer, zum absoluten HERREN seiner selbst und Gebieter über die Dinge erhöht. Dialektisch gesprochen: das Subjekt macht die durch objektive gesellschaftliche Bewegung/Verhältnisse vollzogene Verdinglichung des menschlichen Denkens (wie ich es gerade kurz dargestellt habe) zu seiner eigenen Reflexionsform, die wiederum zugleich Voraussetzung zur Aufrechterhaltung des Verhältnisses ist. In diesem Zusammenhang verweise ich auf die auch von mir im Reader zitierte Adornostelle: "Der Fetischcharakter, gesellschaftlich notwendiger Schein, ist geschichtlich zum Prius dessen geworden, wovon er seinem Begriff nach das Posterius wäre." Und dann, ein paar Seiten weiter, formuliert Adorno: "[...]Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt."
Theorie gehört der Gesellschaft an, aber eben ähnlich und noch mehr wie für das Subjekt gilt für diese: Sie ist zugleich autonom, fähig zur Reflexion und Selbstbesinnung. Theorie enthält somit ein Moment der Selbständigkeit; Theorie ist also in der Lage gerade vermöge ihrer Verstricktheit und Gewordenheit in dieser Gesellschaft, sich jener und ihrer eigenen Situation kritisch bewusst zu werden und somit – in der Absicht gegen diese Gesellschaft gerichtet – durch sie hindurch bedingte Freiheit zu erlangen und hierdurch die universale Freiheit, welche die Abschaffung der bestehenden Verhältnisse, also Kommunismus, wäre, möglich erscheinen zu lassen. Dass im Denken die Möglichkeit und teilweise, wie aufgezeigt, es tatsächlich erscheint, sich von der "blinden Vorherrschaft materieller Praxis" (Adorno) zu befreien, verweist auf die Möglichkeit, dass es überhaupt und allen, also global und universell, möglich ist, sich dieser Herrschaft, sich diesem Bann (der Arbeit) zu entledigen. Es verweist also wiederum auf Freiheit. Und u.a. deswegen wäre auch das Ziel richtiger Praxis: ihre eigene Abschaffung; eben auch verstanden als Abschaffung gesellschaftlich bestimmter Praxis und mehr noch die Abschaffung von Denken/Theorie – im kontemplativen Sinne – als eine abgespaltene, isoliert existierende Sphäre der menschlichen Existenz. Es geht also um die Überwindung dieses Widerspruchs. An dieser Stelle gilt es genau jenen Widerspruch der in sich widersprüchlichen Gesellschaft in emanzipatorischer Absicht theoretisch in Stellung zu bringen, denn seine Widersprüchlichkeit weist selbst über den Kapitalismus hinaus, lässt ihn doch nicht als letztes Wort der Geschichte dastehen. Kritische Theorie muss in ihrer Kritik also immanent vorgehen. Hierzu Postone: "Die dialektische Darstellungsweise soll demnach ihrem Gegenstand adäquat sein und ihm zum Ausdruck verhelfen. Nur als solcherart immanente Kritik beansprucht die Marxsche Analyse dialektisch zu sein: insofern sie zeigt, dass ihr Gegenstand dies ist." (Postone: Zeit, Arbeit, gesellschaftliche Herrschaft)
Aufgrund dieser immanenten, negativen Kritik lässt sich das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis als dem von Subjekt und Objekt ähnlich darstellen: Gesellschaftliche Praxis, also Praxis überhaupt, ist sowohl durch Denken als auch durch Handeln der vergesellschafteten Individuen bestimmt. Psychologisch lässt sich dieser Widerspruch wie folgt darstellen:
"Die Trennung von Gesellschaft und Psyche ist falsches Bewusstsein; sie verewigt kategorial die Entzweiung des lebendigen Subjekts und der über den Subjekten waltenden und doch von ihnen herrührenden Objektivität. Aber diesem falschen Bewusstsein lässt sich nicht durchs methodologische Dekret der Boden entziehen. Die Menschen vermögen sich selbst in der Gesellschaft nicht wiederzuerkennen und diese nicht in sich, weil sie einander und dem Ganzen entfremdet sind. Ihre vergegenständlichten gesellschaftlichen Beziehungen stellen ihnen notwendig als ein Ansichsein sich dar. Was die arbeitsteilige Wissenschaft auf die Welt projiziert, spiegelt nur zurück, was in der Welt sich vollzog. Das falsche Bewusstsein ist zugleich richtiges, inneres und äußeres Leben sind auseinandergerissen." (Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie)
Subjekt und Objekt
Mit dem Begriff "Subjekt", aber auch mit "Individuum" ist stets schon ein Allgemeines gemeint (was im Übrigen für den gemeinen Alltagsverstand selber ebenso gilt); es geht im Folgenden also, wenn von Subjekt u.ä. die Rede ist, nicht um bloß "Subjektives" im herkömmlichen Sprachgebrauch, gar Beliebiges, allein für sich einzeln Dastehendes, sondern immer um eben jenes Allgemeine/Bedingte, oder auch die Subjektform, die ich in diesem Referat von einem bestimmten Moment aus näher einzukreisen versuche. So auch, wenn ich von Praxis rede, insbesondere von "emanzipatorischer Praxis" o.ä., dann ist Praxis immer als gesellschaftliche Praxis im umfassenden Sinne mitgedacht und gemeint. Ähnliches gilt im Übrigen für die hier verwandten Begriffe Gesellschaft, Moderne, moderne Gesellschaft, warenproduzierendes Patriarchat, Kapitalismus etc., die teilweise synonym verwandt werden, ohne deren unterschiedliche Akzentuierung zu verwischen; sie werden deshalb meist an den entsprechenden thematischen Stellen gebraucht; gemeint ist vorwiegend das, was oft als das "falsche Ganze" bezeichnet wird.
Dazu, wie sich das moderne Subjekt darstellt, und als eine Art Problemaufriss soll folgendes Zitat von Claus Peter Ortlieb dienen:
"Das Verbindungsglied zwischen der Warengesellschaft und der objektiven Erkenntnisform ist das bürgerliche Subjekt, also die spezifische Konstitution des Bewusstseins, die einerseits erforderlich ist, um in der waren- und geldförmigen Vergesellschaftung bestehen zu können [...], und die andererseits das Erkenntnissubjekt haben muss, um zu objektiver Erkenntnis fähig zu sein. Es geht hier also nicht um die individuellen Unterschiede, wie es in der Sprechweise vom ''subjektiven Faktor'' nahe gelegt wird, sondern um das, worin sich alle bürgerlichen Menschen gleichen bzw. was sie zu Gleichen macht" (Claus Peter Ortlieb, Bewusstlose Objektivität).
Das Subjekt ist selber – soweit sollte es klar geworden sein – eine moderne, also historisch erst vor kurzem entstandene Form, abstrahiert vom empirischen, individuellen Menschen; die Subjektform abstrahiert zwar vom konkreten Inhalt, sie ist aber dennoch bestimmt, und zwar formal durch das, was Robert Kurz mal als MWW bezeichnet hat, sie ist strukturell männlich, weiß und westlich.
Im Folgenden versuche ich eine kleine Annäherung an Adornos erkenntnistheoretisches Diktum des "Vorranges des Objekts" zu geben; dies, weil es m.E. auf der einen Seite wichtig ist für das Verständnis, was kritische Erkenntnis überhaupt bedeutet – das meint das Erkennen von Erscheinungen und Erfahrungen in unserer Gesellschaft, unseres alltäglichen Lebens, bis hin zur Anschauung der sog. Natur. Auf der anderen Seite enthält das Erkenntnismodell des "Vorranges des Objekts" wichtige Implikationen zur Bestimmung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, und nicht zuletzt hat es auch Konsequenzen für eine jede fällige Praxis:
Obwohl das starre Gegenüber, das Getrenntsein von Subjekt und Objekt bereits Moment von Verdinglichung ist, so bedeutet "Vorrang des Objekts" nicht eine Reduktion auf bloßes Wahrnehmen, nicht eine Hinwendung an das scheinbar unmittelbar so Daseiende und dessen Empfindung. Es sollte bisher deutlich geworden sein, dass im Objekt immer auch Subjektives steckt und wir aber nicht einfach dies Subjektive abschneiden können, wir nicht aus unserer Subjektform heraustreten können. Dazu schreibt Adorno: "Der Vorrang von Objekt...ist das Korrektiv der subjektiven Reduktion, nicht die Verleugnung eines subjektiven Anteils." In der Reflexion wird somit Subjektivität und damit auch Subjekt selber zum festgehaltenen Moment und dem Objektiven wird somit der Vorrang gewährt, dass nun alles in seiner Bedingtheit und seiner relativen Eigenständigkeit Berücksichtigung findet. Wir haben es so also weder mit einem Kantschen "Ding an sich" noch mit einer rein subjektiven Setzung zu tun. Reflektiert und erkennt zwar immer das Subjekt (weswegen ja gerade dem Objekt Vorrang gewährt wird), so tut es dies doch, wenn es kritisch im Sinne des "Vorranges des Objekts" verfährt, im Bewusstsein der "Bedingtheit des Bedingenden".
Nach Adorno ist der "Vorrang des Objekts" auch von Praxis zu achten. "Recht verstanden ist Praxis, sofern Subjekt seinerseits ein Vermitteltes ist, das, was das Objekt will: sie folgt seiner Bedürftigkeit." Da die Bedürftigkeit sowie die Objekte selber jedoch durch das Gesamtsystem vermittelt sind, bedarf es eben einer Theorie, die kritisch durch diese Vermittlungen hindurch die Bedürftigkeit bestimmt, denn das "Ziel richtiger Praxis wäre ihre eigene Abschaffung". Die Theorie wiederum ist ständig an Erfahrung zu überprüfen und steht mit ihr in Wechselwirkung, hält sozusagen Rücksprache. Bei Adorno klingt das folgendermaßen:
"Die Schlüsselposition des Subjekts in der Erkenntnis ist Erfahrung, nicht Form; was bei Kant Formung heißt, wesentlich Deformation. Die Anstrengung von Erkenntnis ist überwiegend die Destruktion ihrer üblichen Anstrengung, der Gewalt gegen das Objekt. Seiner Erkenntnis nähert sich der Akt, in dem das Subjekt den Schleier zerreißt, den es um das Objekt webt. Fähig dazu ist es nur, wo es in angstloser Passivität der eigenen Erfahrung sich anvertraut."
Ich kann hier nicht weiter auf den besonderen Erfahrungsbegriff und seine Bedeutung bei Adorno eingehen, aber es sollte deutlich geworden sein, worauf seine Theorie der Erkenntnis hinauswill und was "Vorrang des Objekts" wenigstens andeutet, wobei ihm als negativ bestimmte Utopie (nicht negative Utopie oder Distopie!) gilt: "Wäre Spekulation über den Stand der Versöhnung erlaubt, so ließe in ihm weder die ununterschiedene Einheit von Subjekt und Objekt noch ihre feindselige Antithetik sich vorstellen; eher die Kommunikation des Unterschiedenen."
Ausgehend von diesen Überlegungen zu "Subjekt und Objekt" und entgegen des Diktums der "objektiven Wissenschaft", alles Subjektive aus einem Untersuchungsgegenstand wegzunehmen, und ganz im Einklang mit Adornos Konzeption des "Vorranges des Objekts" lässt sich sagen: Vom Objekt das Subjektive wegzuschneiden ist a) wohl kaum möglich, weil es den Anschein erweckt, die Sachen seien nicht vermittelt, nicht von Menschen beeinflusst, wenn nicht gar gemacht; und es übersieht auch völlig die subjektiv geformte und formal subjektive Erkenntnisart des Individuums, und b) verfälscht es den Gegenstand gerade um ein ihm wesentliches Moment; verfährt reduktionistisch.
Als Indikator für die geschlechtliche Abspaltung kann in Bezug auf das Erkenntnisproblem das Vorgehen in wissenschaftlicher "Wahrheitsproduktion" herangezogen werden: Idealtypisch wird im Experiment alles abgespalten, was nicht in die wissenschaftliche Form, was sich nicht der formalen Methode einschließlich der theoretischen Vorbestimmungen fügen will. Von Wirklichkeit wird abstrahiert. Zum Funktionieren von Wirklichkeit, und damit auch zur Reproduktion der falschen Gesellschaft, bedarf es jedoch nicht nur in der Wissenschaft dieser abgespaltenen, nicht unter die eine Form subsumierbaren Momente. Historisch sind diese Momente (seien es "Natur", Emotionen, Zuneigung, zeitverausgabende Tätigkeiten wie z.B. Hege und Pflege etc.) fast ausschließlich idealiter Frauen zugeschrieben und realiter an eben jene delegiert worden.
Auf dieser Grundlage lässt sich für das Denken allgemein folgende Feststellung machen: dass das patriarchale Denken nämlich nicht trotz, sondern gerade wegen der Tatsache, dass es die sinnliche, konkrete Welt nicht wahrnehmen, dieser sich eben herrschaftlich bemächtigen kann.
Mit Roswitha Scholz ist darauf zu beharren, dass nicht alles, was vom Erkenntnissubjekt nicht erfasst wird oder erfasst werden kann, was von ihm abgespalten und verdrängt wird, seinerseits wiederum identitätslogisch bestimmt wird, also nicht ebenso der universellen "Gleichmacherei" anheimfällt oder als das ontologisch Gute aufgefasst wird. Es gibt eine "Spannung zwischen Begriff und Differenzierung". Weder wird man so der jeweiligen Eigenqualität des Abgespaltenen gerecht, noch verhält sich das sog. MWW (also das männlich, weiße, westliche Subjekt) gegenüber allem seiner Logik ausgeschlossenem Differenten jeweils gleich. Ich verweise an dieser Stelle lediglich auf die Unterschiede von Rassismus – incl. der zu unterscheidenden Rassismen –, Sexismus und nicht zuletzt dem Antisemitismus. Dazu noch einmal Adorno: "Die spezifischen Differenzen der einzelnen sind ebenso Male des gesellschaftlichen Drucks wie Chiffren menschlicher Freiheit." (Theodor W. Adorno, Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie)
Im letzten Abschnitt sollen nun im Anschluss an das eben Gesagte vorläufige Überlegungen zu Theorie und Praxis der Bewusstwerdung dargestellt werden.
Bewusstwerdung
Sich einen Begriff von etwas zu machen, heißt, sich mit einem Gegenstand praktisch und aktiv auseinander zu setzen. Auch hier ist die Anstrengung und Leistung des Geistes gefordert. Sich mit Gegenständen und ihren Begriffen auseinander zu setzen ist einer der wichtigsten Bestandteile der Bewusstwerdung. Wenn das Ziel emanzipatorischer Anstrengung sein soll, das Zusammenleben der Menschen jenseits von fetischistischer Gesellschaft bewusst zu gestalten, ist Bewusstwerdung unabdingbare Voraussetzung hierfür. Kritische Theorie erweist sich somit selber als eine Gestalt von Praxis. Da es aber kein Herausspringen aus der gesellschaftlichen Totalität geben kann und jede konkrete Utopie notwendig im Bestehenden verhaftet bleiben muss, ist Bewusstwerdung nur negativ zu begreifen. Sie ist dies im Sinne des sich Gewahr Werdens der gegebenen Gegenstände in ihrer historischen Bedingtheit bei gleichzeitigem Bewusstsein deren Nichtaufgehens in dieser verdinglichten Gestalt und dem verdinglichenden Begriff des Geistes. Erst das eröffnet die Möglichkeit, die Fetischkonstruktion der Moderne prozessual abzustreifen. Die Überlegungen zu Bewusstwerdung sind nicht als verzweifelte Rettung eines aufklärerischen Begriffs oder als Positivierung eines im Kerne negativ gefassten Begriffs zu verstehen, sondern als ein Versuch, der radikalen Negation des Bestehenden, von der Marcuse einmal sagte, "vor allen positiven Zielsetzungen" sei "diese Negation das erste Positive", eine theoretische und somit praktische Perspektive und Bedeutung zu verleihen, die ihr gebührt.
Zum Schluss ist es mir wichtig, nochmals zu betonen: diese Überlegungen gelten ausschließlich für die – nicht nur philosophische – Moderne, und dabei ist darauf zu beharren, dass sowohl das historische Subjekt als auch die gegebenen Gegenstände weder überhistorisch gültig noch natürlich sind. Das Gegenteil anzunehmen, das ist eben verdinglichendes und identifizierendes Denken, der universale, identitätslogische Anspruch des herrschaftlichen Geistes. Genauso wenig darf in einer Rückprojektion der Erkenntnismodus oder die Kritik auf vormoderne Zeiten angewandt werden.
Mit Blick auf das Motto des Arbeitskreises und der Tagung in Oldenburg gilt also in der Tat, sich nicht dumm machen zu lassen, weder vom krisenkapitalistischen Alltag noch vom blinden (linken) Aktionismus, welcher oft gar nicht so unterschieden vom Alltag ist, wie er es gerne propagiert.
14.02.2006
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