Eine fundamentale Kritik der modernen Ökonomie erscheint den meisten Menschen heute so verrückt wie der Versuch, durch die Wand statt durch die Tür zu gehen. Zwar trägt diese Ökonomie aus der Distanz betrachtet selber alle Züge der Verrücktheit; aber weil die Kriterien der kapitalistischen Maschine allgemein verinnerlicht worden sind, gelten sie als normal. Wenn die Verrückten in der Mehrheit sind, dann ist Verrücktheit Bürgerpflicht. Unter diesem Druck zieht sich die Gesellschaftskritik aus dem Gebiet der Ökonomie zurück und sucht nach Ausweichmöglichkeiten. Gerade die Linke hat es gar nicht gern, wenn jemand den Nerv der herrschenden ökonomischen Verhältnisse anbohrt: Es tut weh, wenn man an die eigene bedingungslose Kapitulation erinnert wird. Deshalb zieht es die theoretisch abgerüstete Linke vor, jede ernsthafte Kritik des Marktes, des Geldes und des Warenfetischismus als altmodischen und unfruchtbaren "Ökonomismus" zu denunzieren, den man selber längst hinter sich gelassen habe.
Und womit beschäftigt sich eine Gesellschaftskritik, die eigentlich schon gar keine mehr ist? Früher war das große Ausweichfeld die Politik. Damit war sogar noch der Anspruch verbunden, die gemeinsamen Angelegenheiten (und also auch die Ökonomie) des warenproduzierenden Systems durch einen "vernünftigen Diskurs" der Gesellschaftsmitglieder in den politischen Institutionen zu regulieren. Davon ist fast nichts übrig geblieben. Die Politik wurde längst zur abhängigen, sekundären Funktions-Sphäre der totalitären Ökonomie degradiert. Heute hat der kapitalistische Selbstzweck die früher vermutete "relative Selbstständigkeit" der Politik aufgefressen. Deshalb flüchtet in der Postmoderne die Gesellschaftskritik aus der Politik in die Kultur, wie sie vorher aus der Ökonomie in die Politik geflüchtet war. Die postmoderne Linke ist in jeder Hinsicht "kulturalistisch" geworden und bildet sich allen Ernstes ein, im Bereich der Kunst, der Massenkultur, der Medien und der Medientheorien irgendwie "subversiv" tätig werden zu können, während sie die Kritik der kapitalistischen Ökonomie praktisch aufgegeben hat und nur noch lustlos nebenbei erwähnt.
Aber in welchen Bereich der Gesellschaft die ökonomiekritisch stumm gewordene Linke auch flüchtet, die kapitalistische Ökonomie ist immer schon da und grinst sie höhnisch an. Zwar ist es richtig, "daß diese Wirtschaft sich von der Gesellschaft geschieden hat", wie die französische Gesellschaftskritikerin Viviane Forrester in ihrem Buch über den "Terror der Ökonomie" schreibt. Aber der Kapitalismus hat die Gesellschaft nur im sozialen Sinne vergessen, ohne sie jedoch aus seinen Klauen zu entlassen. Im Gegenteil, die totalitäre Ökonomie wacht eifersüchtig darüber, daß auf dieser Erde nichts mehr geschieht, was nicht unmittelbar dem Selbstzweck der Profitmaximierung dient. Und das gilt heute auch für die Kultur.
Die moderne Ökonomie entstand in dem Maße, wie sich die kapitalistische Sphäre der industriellen Produktion von den übrigen Lebensbereichen abgespalten hat. Die Kultur im weitesten Sinne schien eine "außerökonomische" Betätigung zu sein, die als bloßer Abfall des Lebens in die sogenannte "Freizeit" verbannt wurde. Das war die erste Degradation der Kultur in der Moderne: Sie verwandelte sich in eine gewissermaßen unernsthafte Angelegenheit und in eine bloße "Restzeit". Aber sobald der Kapitalismus die materielle Reproduktion der Gesellschaft flächendeckend beherrschte, dehnte sich sein unersättlicher Appetit auch auf die immateriellen Momente des Lebens aus und er fing an, soweit wie möglich die abgespaltenen Bereiche Stück für Stück wieder einzukassieren und sie seiner ureigensten betriebswirtschaftlichen Rationalität zu unterwerfen. Das war die zweite Degradation der Kultur: sie wurde selber industrialisiert.
Dabei wiederholte sich, was Marx über die Umformung der materiellen Produktion gesagt hatte, denn auch die Kultur erlebte den Übergang von der "formellen" zur "reellen" Subsumtion unter das Kapital: Wurden die kulturellen Güter zunächst nur äußerlich und im nachhinein als Gegenstände des Kaufens und Verkaufens von der Logik des Geldes erfaßt, so ging im Laufe des 20. Jahrhunderts schon ihre Erzeugung mehr und mehr apriori von kapitalistischen Kriterien aus. Das Kapital wollte jetzt nicht mehr bloß der Agent für die Zirkulation von kulturellen Gütern sein, sondern ihren totalen Reproduktionsprozeß beherrschen. Kunst und Massenkultur, Wissenschaft und Sport, Religion und Erotik wurden zunehmend produziert wie Autos, Kühlschränke oder Waschpulver. Damit verloren auch die kulturellen Produzenten ihre "relative Unabhängigkeit". Die Produktion von Liedern und Romanen, von wissenschaftlichen Entdeckungen und theoretischen Reflexionen, von Filmen, Bildern und Sinfonien, von sportlichen und spirituellen Ereignissen konnte gleichermaßen nur noch als Produktion von Kapital (Mehrwert) stattfinden. Das war die dritte Degradation der Kultur.
Immerhin gab es in der Epoche der Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg noch einen gesellschaftlichen Puffer, der in vielen Ländern die Kultur wenigstens teilweise gegen den totalen Zugriff der Ökonomie abfederte. Das war der Mechanismus der keynesianischen Umverteilung. Das "deficit spending" fütterte nicht nur die militärische Rüstung und den Sozialstaat, sondern auch bestimmte Bereiche der Kultur. Sicherlich setzte auch die staatliche Subventionierung einer Selbständigkeit der Kultur enge Grenzen. Aber die Kontrolle durch den Staat war der öffentlichen Diskussion zugänglich und nicht lückenlos: Mit Funktionären und Politikern kann man im Falle eines Konflikts verhandeln, mit den subjektlosen "Gesetzen des Marktes" nicht. Durch die Vermittlung des "Kultur-Keynesianismus" war ein Teil der kulturellen Produktion nur indirekt von der Logik des Geldes abhängig. Soweit Rundfunk und Fernsehen, Universitäten und Galerien, künstlerische und theoretische Projekte staatlich betrieben oder bezuschußt wurden, mußten sie sich nicht unmittelbar betriebswirtschaftlichen Kriterien unterwerfen und es gab gewisse Spielräume für kritische Reflexion, Experimente und minoritäre "brotlose Künste", ohne daß sofort materielle Sanktionen drohten.
Diese Situation hat sich seit Beginn der neuen Weltkrise und durch den damit einhergehenden neoliberalen Feldzug gründlich geändert. Das Ende von Sozialismus und Keynesianismus mußte die Kultur am härtesten treffen, denn natürlich wurden hier die Mittel zuerst zusammengestrichen. Die Staaten haben zwar nicht militärisch, aber kulturell abgerüstet. Für einen kleinen Teil des kulturellen Spektrums tritt an die Stelle der staatlichen Förderung das private Sponsoring. Es gibt keine sozialen und kulturellen Bürgerrechte mehr, sondern nur noch die caritative Willkür der marktwirtschaftlichen Gewinner. Die kulturellen Produzenten sehen sich den persönlichen Launen von Moguln des Kapitals und Mandarinen des Managements ausgesetzt, für deren gelangweilte Frauen sie als Hobby und Zeitvertreib dienen dürfen. Wie die Hofnarren und Bedienten des Mittelalters müssen sie die Logos und Embleme ihrer Herren tragen, um für das Marketing nützlich zu sein. Das ist die vierte Degradation der Kultur.
Für den weitaus überwiegenden Teil der Künste, Wissenschaften und kulturellen Aktivitäten aller Art aber kommt nicht einmal mehr das demütigende und willkürliche private Sponsoring in Frage. Sie sind heute in einem Ausmaß wie niemals zuvor direkt und ungefiltert den Mechanismen des Marktes ausgesetzt. Wissenschaftliche Institute und Sportvereine müssen an die Börse gehen, Universitäten und Theater Profite abwerfen, Literatur und Philosophie den Kriterien der Massenproduktion standhalten. In die großen Kanäle der Distribution gelangt nur noch, was als Angebot zur Freizeitgestaltung von Heloten des Marktes taugt. Dementsprechend kommt es zu grotesken Verzerrungen in der Gratifikation für kulturelle Leistungen: Während Fußball- und Tennisspieler Millionengagen erhalten, sinken die Produzenten von Kritik, Reflexion, Darstellung und Interpretation der Welt auf den Status von Toilettenreinigern herab. Durch die kapitalistische Rationalisierung der Medien werden Billiglohn, "Outsourcing" und betriebswirtschaftliche Sklaventreiberei auf die kulturelle Sphäre übertragen.
Das Resultat kann nur die Zerstörung der qualitativen Inhalte von Kultur sein. Miserabel bezahlte, sozial degradierte und gehetzte Kultur- und Medienarbeiter stellen logischerweise auch miserable Produkte her; das gilt auf diesem Gebiet ebenso wie auf jedem anderen. Und die brutale Reduktion auf den verkürzten Zeithorizont und auf die Massendistribution des Marktes eliminiert zuverlässig alles, was mehr als ein Wegwerfprodukt sein will. Bald werden wir in den Buchhandlungen nur noch bemitleidenswerte Softpornos, Kochbücher und Esoterik für den depravierten Mittelstand finden. Auch in den Wissenschaften hinterläßt die entfesselte Logik des Geldes eine Spur der Verwüstung. Weil sie ihrem Wesen nach nicht marktkonform sein können, werden die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften aus dem akademischen Betrieb ausgejätet wie Unkraut. Vor allem die historischen Institute sind dem "Mobbing" und dem Entzug der Mittel ausgesetzt, denn der geschichtslose Markt braucht keine Vergangenheit mehr. An die Stelle der Philosophie und Gesellschaftstheorie tritt endgültig die totale Naturwissenschaft; aber auch innerhalb der Naturwissenschaften wird die "zweckfreie" Grundlagenforschung abgewertet und stranguliert zugunsten direkt profitabler Auftragsforschung des Kapitals.
Diese Tendenzen führen ebenso notwendig zum Zusammenbruch der kulturellen Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie bereits die politische und religiöse Subjektivität entwertet haben, ohne etwas Neues an ihre Stelle zu setzen. Nicht einmal ein Konservativer "ist" heute mehr konservativ, sondern nur jemand, der Konservatismus verkauft wie andere Tomatenpüree oder Schnürsenkel. Gerade der orthodoxe gegenwärtige Papst erweist sich in Wahrheit als Marketing-Spezialist für religiöse Events; bald werden auch die Kirchen und Sekten an die Börse gehen und Religion nach den Prinzipien des Shareholder value vermarkten. Dieselbe Schändung ihrer Persönlichkeit machen jetzt die Künstler und Wissenschaftler durch. Wenn sie in vorauseilendem Gehorsam selber apriori in den Kategorien der Verkaufbarkeit denken und produzieren, haben sie ihre Sache schon verloren und können nur noch ihre Selbstaufgabe ratifizieren, wie der Erfolgsmaler Baselitz in einem Augenblick der Wahrheit seine Bilder zur Wand drehte.
Der "Ökonomismus" ist kein fehlerhaftes und einseitiges Denken von unverbesserlichen Marxisten, sondern die reale Tendenz der herrschenden Gesellschaftsordnung zum ökonomischen Totalitarismus, der in der gegenwärtigen Krise seinen vielleicht größten und letzten Schub erhält. Aber der Kapitalismus kann allein auf seinen eigenen Grundlagen nicht existieren. Wie die Pharmaindustrie ihre große Quelle von Wissen und Material verliert, wenn die Regenwälder endlich vernichtet sind, so muß die Kulturindustrie austrocknen, wenn sie keine kreativen Subkulturen mehr anzapfen kann, weil die nicht-kommerzielle Selbsttätigkeit der Massen endgültig abgestorben ist. Eine Gesellschaft, die nur noch aus hechelnden, aufdringlichen Verkäufern besteht und sich selbst nicht mehr reflektieren kann, ist auch sozial und ökonomisch unhaltbar geworden.
Für die Produzenten der Kultur, der Kunst und des reflexiven Denkens gibt es keinen Grund mehr, sich dem miserabel zahlenden und selbstherrlichen Kapitalismus legitimatorisch zur Verfügung zu stellen und in der postmodernen Wüste des Marktes nach Komplimenten zu fischen. Wenn sie einen Rest von Selbstachtung besitzen, müssen sie in die innere Emigration gehen und sich wenigstens im Geheimen ihre unversöhnliche Feindschaft zu den Kriterien des Marktes bekennen. Diese Intention darf nicht passiv sein, sie muß aktiv werden. Vielleicht sollten sich die kulturellen Produzenten zu anti-marktwirtschaftlichen Gruppen, Genossenschaften, Gilden, Clubs und Vereinen zusammenschließen, die nichts verkaufen wollen, sondern im Gegenteil kulturelle Ressourcen vor der Barbarei des Marktes retten. Vom Kulturkonservatismus, der immer herrschaftskonform ist, wird sich diese Intention vor allem dadurch unterscheiden, daß sie sich mit den Erniedrigten und Beleidigten verbündet und den sozialen Leiden einen kulturellen Ausdruck gibt, statt in den fröhlichen Positivismus der postmodernen Opportunisten einzustimmen.
Und womit beschäftigt sich eine Gesellschaftskritik, die eigentlich schon gar keine mehr ist? Früher war das große Ausweichfeld die Politik. Damit war sogar noch der Anspruch verbunden, die gemeinsamen Angelegenheiten (und also auch die Ökonomie) des warenproduzierenden Systems durch einen "vernünftigen Diskurs" der Gesellschaftsmitglieder in den politischen Institutionen zu regulieren. Davon ist fast nichts übrig geblieben. Die Politik wurde längst zur abhängigen, sekundären Funktions-Sphäre der totalitären Ökonomie degradiert. Heute hat der kapitalistische Selbstzweck die früher vermutete "relative Selbstständigkeit" der Politik aufgefressen. Deshalb flüchtet in der Postmoderne die Gesellschaftskritik aus der Politik in die Kultur, wie sie vorher aus der Ökonomie in die Politik geflüchtet war. Die postmoderne Linke ist in jeder Hinsicht "kulturalistisch" geworden und bildet sich allen Ernstes ein, im Bereich der Kunst, der Massenkultur, der Medien und der Medientheorien irgendwie "subversiv" tätig werden zu können, während sie die Kritik der kapitalistischen Ökonomie praktisch aufgegeben hat und nur noch lustlos nebenbei erwähnt.
Aber in welchen Bereich der Gesellschaft die ökonomiekritisch stumm gewordene Linke auch flüchtet, die kapitalistische Ökonomie ist immer schon da und grinst sie höhnisch an. Zwar ist es richtig, "daß diese Wirtschaft sich von der Gesellschaft geschieden hat", wie die französische Gesellschaftskritikerin Viviane Forrester in ihrem Buch über den "Terror der Ökonomie" schreibt. Aber der Kapitalismus hat die Gesellschaft nur im sozialen Sinne vergessen, ohne sie jedoch aus seinen Klauen zu entlassen. Im Gegenteil, die totalitäre Ökonomie wacht eifersüchtig darüber, daß auf dieser Erde nichts mehr geschieht, was nicht unmittelbar dem Selbstzweck der Profitmaximierung dient. Und das gilt heute auch für die Kultur.
Die moderne Ökonomie entstand in dem Maße, wie sich die kapitalistische Sphäre der industriellen Produktion von den übrigen Lebensbereichen abgespalten hat. Die Kultur im weitesten Sinne schien eine "außerökonomische" Betätigung zu sein, die als bloßer Abfall des Lebens in die sogenannte "Freizeit" verbannt wurde. Das war die erste Degradation der Kultur in der Moderne: Sie verwandelte sich in eine gewissermaßen unernsthafte Angelegenheit und in eine bloße "Restzeit". Aber sobald der Kapitalismus die materielle Reproduktion der Gesellschaft flächendeckend beherrschte, dehnte sich sein unersättlicher Appetit auch auf die immateriellen Momente des Lebens aus und er fing an, soweit wie möglich die abgespaltenen Bereiche Stück für Stück wieder einzukassieren und sie seiner ureigensten betriebswirtschaftlichen Rationalität zu unterwerfen. Das war die zweite Degradation der Kultur: sie wurde selber industrialisiert.
Dabei wiederholte sich, was Marx über die Umformung der materiellen Produktion gesagt hatte, denn auch die Kultur erlebte den Übergang von der "formellen" zur "reellen" Subsumtion unter das Kapital: Wurden die kulturellen Güter zunächst nur äußerlich und im nachhinein als Gegenstände des Kaufens und Verkaufens von der Logik des Geldes erfaßt, so ging im Laufe des 20. Jahrhunderts schon ihre Erzeugung mehr und mehr apriori von kapitalistischen Kriterien aus. Das Kapital wollte jetzt nicht mehr bloß der Agent für die Zirkulation von kulturellen Gütern sein, sondern ihren totalen Reproduktionsprozeß beherrschen. Kunst und Massenkultur, Wissenschaft und Sport, Religion und Erotik wurden zunehmend produziert wie Autos, Kühlschränke oder Waschpulver. Damit verloren auch die kulturellen Produzenten ihre "relative Unabhängigkeit". Die Produktion von Liedern und Romanen, von wissenschaftlichen Entdeckungen und theoretischen Reflexionen, von Filmen, Bildern und Sinfonien, von sportlichen und spirituellen Ereignissen konnte gleichermaßen nur noch als Produktion von Kapital (Mehrwert) stattfinden. Das war die dritte Degradation der Kultur.
Immerhin gab es in der Epoche der Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg noch einen gesellschaftlichen Puffer, der in vielen Ländern die Kultur wenigstens teilweise gegen den totalen Zugriff der Ökonomie abfederte. Das war der Mechanismus der keynesianischen Umverteilung. Das "deficit spending" fütterte nicht nur die militärische Rüstung und den Sozialstaat, sondern auch bestimmte Bereiche der Kultur. Sicherlich setzte auch die staatliche Subventionierung einer Selbständigkeit der Kultur enge Grenzen. Aber die Kontrolle durch den Staat war der öffentlichen Diskussion zugänglich und nicht lückenlos: Mit Funktionären und Politikern kann man im Falle eines Konflikts verhandeln, mit den subjektlosen "Gesetzen des Marktes" nicht. Durch die Vermittlung des "Kultur-Keynesianismus" war ein Teil der kulturellen Produktion nur indirekt von der Logik des Geldes abhängig. Soweit Rundfunk und Fernsehen, Universitäten und Galerien, künstlerische und theoretische Projekte staatlich betrieben oder bezuschußt wurden, mußten sie sich nicht unmittelbar betriebswirtschaftlichen Kriterien unterwerfen und es gab gewisse Spielräume für kritische Reflexion, Experimente und minoritäre "brotlose Künste", ohne daß sofort materielle Sanktionen drohten.
Diese Situation hat sich seit Beginn der neuen Weltkrise und durch den damit einhergehenden neoliberalen Feldzug gründlich geändert. Das Ende von Sozialismus und Keynesianismus mußte die Kultur am härtesten treffen, denn natürlich wurden hier die Mittel zuerst zusammengestrichen. Die Staaten haben zwar nicht militärisch, aber kulturell abgerüstet. Für einen kleinen Teil des kulturellen Spektrums tritt an die Stelle der staatlichen Förderung das private Sponsoring. Es gibt keine sozialen und kulturellen Bürgerrechte mehr, sondern nur noch die caritative Willkür der marktwirtschaftlichen Gewinner. Die kulturellen Produzenten sehen sich den persönlichen Launen von Moguln des Kapitals und Mandarinen des Managements ausgesetzt, für deren gelangweilte Frauen sie als Hobby und Zeitvertreib dienen dürfen. Wie die Hofnarren und Bedienten des Mittelalters müssen sie die Logos und Embleme ihrer Herren tragen, um für das Marketing nützlich zu sein. Das ist die vierte Degradation der Kultur.
Für den weitaus überwiegenden Teil der Künste, Wissenschaften und kulturellen Aktivitäten aller Art aber kommt nicht einmal mehr das demütigende und willkürliche private Sponsoring in Frage. Sie sind heute in einem Ausmaß wie niemals zuvor direkt und ungefiltert den Mechanismen des Marktes ausgesetzt. Wissenschaftliche Institute und Sportvereine müssen an die Börse gehen, Universitäten und Theater Profite abwerfen, Literatur und Philosophie den Kriterien der Massenproduktion standhalten. In die großen Kanäle der Distribution gelangt nur noch, was als Angebot zur Freizeitgestaltung von Heloten des Marktes taugt. Dementsprechend kommt es zu grotesken Verzerrungen in der Gratifikation für kulturelle Leistungen: Während Fußball- und Tennisspieler Millionengagen erhalten, sinken die Produzenten von Kritik, Reflexion, Darstellung und Interpretation der Welt auf den Status von Toilettenreinigern herab. Durch die kapitalistische Rationalisierung der Medien werden Billiglohn, "Outsourcing" und betriebswirtschaftliche Sklaventreiberei auf die kulturelle Sphäre übertragen.
Das Resultat kann nur die Zerstörung der qualitativen Inhalte von Kultur sein. Miserabel bezahlte, sozial degradierte und gehetzte Kultur- und Medienarbeiter stellen logischerweise auch miserable Produkte her; das gilt auf diesem Gebiet ebenso wie auf jedem anderen. Und die brutale Reduktion auf den verkürzten Zeithorizont und auf die Massendistribution des Marktes eliminiert zuverlässig alles, was mehr als ein Wegwerfprodukt sein will. Bald werden wir in den Buchhandlungen nur noch bemitleidenswerte Softpornos, Kochbücher und Esoterik für den depravierten Mittelstand finden. Auch in den Wissenschaften hinterläßt die entfesselte Logik des Geldes eine Spur der Verwüstung. Weil sie ihrem Wesen nach nicht marktkonform sein können, werden die Geistes- und Gesellschaftswissenschaften aus dem akademischen Betrieb ausgejätet wie Unkraut. Vor allem die historischen Institute sind dem "Mobbing" und dem Entzug der Mittel ausgesetzt, denn der geschichtslose Markt braucht keine Vergangenheit mehr. An die Stelle der Philosophie und Gesellschaftstheorie tritt endgültig die totale Naturwissenschaft; aber auch innerhalb der Naturwissenschaften wird die "zweckfreie" Grundlagenforschung abgewertet und stranguliert zugunsten direkt profitabler Auftragsforschung des Kapitals.
Diese Tendenzen führen ebenso notwendig zum Zusammenbruch der kulturellen Subjektivität in der bürgerlichen Gesellschaft, wie sie bereits die politische und religiöse Subjektivität entwertet haben, ohne etwas Neues an ihre Stelle zu setzen. Nicht einmal ein Konservativer "ist" heute mehr konservativ, sondern nur jemand, der Konservatismus verkauft wie andere Tomatenpüree oder Schnürsenkel. Gerade der orthodoxe gegenwärtige Papst erweist sich in Wahrheit als Marketing-Spezialist für religiöse Events; bald werden auch die Kirchen und Sekten an die Börse gehen und Religion nach den Prinzipien des Shareholder value vermarkten. Dieselbe Schändung ihrer Persönlichkeit machen jetzt die Künstler und Wissenschaftler durch. Wenn sie in vorauseilendem Gehorsam selber apriori in den Kategorien der Verkaufbarkeit denken und produzieren, haben sie ihre Sache schon verloren und können nur noch ihre Selbstaufgabe ratifizieren, wie der Erfolgsmaler Baselitz in einem Augenblick der Wahrheit seine Bilder zur Wand drehte.
Der "Ökonomismus" ist kein fehlerhaftes und einseitiges Denken von unverbesserlichen Marxisten, sondern die reale Tendenz der herrschenden Gesellschaftsordnung zum ökonomischen Totalitarismus, der in der gegenwärtigen Krise seinen vielleicht größten und letzten Schub erhält. Aber der Kapitalismus kann allein auf seinen eigenen Grundlagen nicht existieren. Wie die Pharmaindustrie ihre große Quelle von Wissen und Material verliert, wenn die Regenwälder endlich vernichtet sind, so muß die Kulturindustrie austrocknen, wenn sie keine kreativen Subkulturen mehr anzapfen kann, weil die nicht-kommerzielle Selbsttätigkeit der Massen endgültig abgestorben ist. Eine Gesellschaft, die nur noch aus hechelnden, aufdringlichen Verkäufern besteht und sich selbst nicht mehr reflektieren kann, ist auch sozial und ökonomisch unhaltbar geworden.
Für die Produzenten der Kultur, der Kunst und des reflexiven Denkens gibt es keinen Grund mehr, sich dem miserabel zahlenden und selbstherrlichen Kapitalismus legitimatorisch zur Verfügung zu stellen und in der postmodernen Wüste des Marktes nach Komplimenten zu fischen. Wenn sie einen Rest von Selbstachtung besitzen, müssen sie in die innere Emigration gehen und sich wenigstens im Geheimen ihre unversöhnliche Feindschaft zu den Kriterien des Marktes bekennen. Diese Intention darf nicht passiv sein, sie muß aktiv werden. Vielleicht sollten sich die kulturellen Produzenten zu anti-marktwirtschaftlichen Gruppen, Genossenschaften, Gilden, Clubs und Vereinen zusammenschließen, die nichts verkaufen wollen, sondern im Gegenteil kulturelle Ressourcen vor der Barbarei des Marktes retten. Vom Kulturkonservatismus, der immer herrschaftskonform ist, wird sich diese Intention vor allem dadurch unterscheiden, daß sie sich mit den Erniedrigten und Beleidigten verbündet und den sozialen Leiden einen kulturellen Ausdruck gibt, statt in den fröhlichen Positivismus der postmodernen Opportunisten einzustimmen.
aus: Folha de Sao Paulo
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