jeudi 27 janvier 2011

IDEOLOGISCHE RETTUNGSPAKETE

 Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT zum Jahreswechsel 2010/11

Krise, welche Krise? Diese rhetorische Frage stellt sich die kapitalistische Welt wieder einmal im Vollgefühl einer erneuerten Vitalität, die sie sich andichten möchte. Allerdings längst nicht mehr so selbstbewusst wie in den Jahren vor 2008. Eher ist eine gewisse Verwunderung zu spüren, dass der Kelch scheinbar noch einmal vorübergegangen ist. Zu tief war der Einbruch der Weltwirtschaft und zu groß die Blamage der wissenschaftlichen Prognosen, als dass jetzt neuen Verheißungen eines kommenden „Wirtschaftswunders“ mit sekundärer Naivität Glauben geschenkt werden könnte. Am schrillsten tönt der offizielle Optimismus noch in Deutschland, das von einem „Sommermärchen“ ins nächste zu taumeln scheint, unterbrochen nur vom obligatorischen „Wintermärchen“. Nach dem Fußball ist jetzt die Wirtschaft dran. Zwar wird man immer nur zweiter oder dritter Sieger, imaginiert sich aber als Weltmeister der Herzen und der Krisenbewältigung. Hinter dem jüngsten deutschen Exportchauvinismus mit Sentiment und demokratischem Augenaufschlag aber lauert die Angst. Die verlogene Partystimmung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der als Überraschungserfolg ausgegebene „turnaround“ des Europameisters in der Disziplin Billiglohn auf faulem Zauber beruht.
Zwar ist es durchaus bekannt, wird aber inzwischen schon wieder verdrängt, dass der defizitäre Charakter der Konjunktur nicht bewältigt, sondern lediglich von den Finanzblasen auf den Staatskredit und die Notenbanken verlagert wurde. Obwohl diese Geldpolitik auf einem viel tieferen Niveau der Krise nach dem Ende der fordistischen Prosperität schon einmal gescheitert war, möchte man doch in ihren aktuellen Repräsentanten die neuen Wunderdoktoren sehen. Schon ist die Rede vom „selbsttragenden“ Charakter eines globalen Aufschwungs. In Wirklichkeit nährt sich die relative Stabilisierung allein von einer hemmungslosen Geldschwemme der Notenbanken und staatlichen Ausgabenprogrammen. Der vermeintliche deutsche Erfolg beruht auf einem Doppeleffekt der kurzfristigen Staatsinterventionen. Zum einen haben die internen Konjunkturspritzen einen weiteren Einbruch der seit langem relativ schwachen Binnenökonomie aufgefangen. Zum andern waren es ähnliche und teilweise noch weit größer dimensionierte Staatsprogramme in aller Welt, die den deutschen Export vom Sturzflug in ein Durchstarten übergehen ließen. Es ist allein dieser abrupte Wechsel, der die optische Täuschung eines exorbitanten Booms erzeugt, während tatsächlich noch nicht einmal das Vorkrisen-Niveau wieder erreicht wurde.
Weder die Geldschwemme der Notenbanken noch der kreditfinanzierte Staatskonsum lassen sich beliebig verlängern. Die Eliten der BRD setzen offenbar darauf, dass die auch hierzulande anvisierte Wende zu einer neuerlichen staatlichen Sparpolitik zwar die ohnehin politisch gewollte soziale Spaltung vertieft, aber makroökonomisch von der Exportkonjunktur aufgefangen wird. Damit haben sie aber die Rechnung ohne den Wirt des Weltmarkts und seiner Vermittlungszusammenhänge gemacht. Das Problem der Defizite kann aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit in einer globalisierten Ökonomie nicht externalisiert werden. Die berüchtigten „Ungleichgewichte“ schlagen auf die Überschussländer zurück, sobald deren nunmehr staatlich getragene Finanzierung in den Defizitländern an Grenzen stößt. In der EU und insbesondere in der Euro-Zone ist diese Situation bereits erreicht. Die Last der „Defizitsünder“ bildet in Wirklichkeit die Kehrseite der deutschen Exportüberschüsse, die fast zur Hälfte gegenüber den Nachbarländern anfallen. Sobald die Regierungen dort die selbstmörderischen Sparprogramme realisieren, die ihnen gerade von der BRD zwecks Rettung des Euro aufgezwungen wurden, muss ein erheblicher Teil der deutschen Exporte wegbrechen. Allein schon deshalb kann man es nur als groteske Fehleinschätzung bezeichnen, hierzulande selbstherrlich ein „Sonderwunder“ zu feiern, während ringsum die Schuldenkrise tobt, die Arbeitslosigkeit auf Rekordwerte steigt und die Rezession geblieben ist oder rasch zurückkehrt.
Die Vorstellung, dass sich die einseitig auf Exportüberschüssen beruhende BRD-Ökonomie von der Misere anderswo und gerade in der unmittelbaren Nachbarschaft „abkoppeln“ könne, hat auch in der Hoffnung auf die Märkte der USA und Chinas keine tragfähige Grundlage. Die hemmungslose Dollarflut der US-Notenbank bleibt angesichts der realen Überkapazitäten fast wirkungslos für Erweiterungsinvestitionen. Aber sie treibt weltweit die Aktienkurse und zu Hause den kreditfinanzierten Konsum, obwohl sich die Arbeitslosigkeit mehr als verdoppelt hat. China andererseits konnte nach einem kurzen Einbruch seine hohen Wachstumsraten nur durch einen ähnlichen zweifachen Effekt wie die BRD vorerst retten. Während mit Hilfe der Staatsprogramme in aller Welt der Einbruch bei den Exportüberschüssen ebenso aufgefangen werden konnte, hat der chinesische Staat gleichzeitig im Unterschied zu den USA kreditfinanzierte Erweiterungsinvestitionen in ungeheurem Ausmaß erzwungen und auf diese Weise auch den deutschen Maschinenbau nach dem Absturz 2009 wieder nach oben gezogen. Bei dieser investiven Flucht nach vorn handelt es sich aber um neu aufgetürmte Überkapazitäten, die dauerhaft weder vom chinesischen Binnenmarkt noch von den Exporten absorbiert werden können. Sowohl die Flutung der Weltökonomie mit Dollars als auch die chinesische Investitionsblase enthalten einen inflationären Treibsatz, der mittelfristig zu scharfen geldpolitischen Korrekturen zwingt. Die zweite Welle der Weltwirtschaftskrise ist vorprogrammiert, nicht ein „goldenes Jahrzehnt“.
Der neuerliche Berufsoptimismus von Politik, Medien und Wirtschaftsinstituten ergänzt die vom ungedeckten Staatskredit kreierten ökonomischen Rettungspakete durch ideologische, die genauso leer sind. Was allen Ernstes als Versprechen einer erreichbaren „Vollbeschäftigung“ ausgegeben wird, hat keine Zukunft und besteht auch aktuell nur aus einer fortschreitenden Prekarisierung. Die industrielle Beschäftigung schrumpft dramatisch weiter, während die kapitalistisch unproduktiven Billig-Dienstleistungen nur im Gefolge der vom noch billigeren Geld wiederbelebten Exportoffensive zunehmen. Deshalb wird dieses sekundäre, nur scheinbar binnenökonomisch fundierte „Beschäftigungswunder“ zusammen mit dem Blendwerk von staatlichen Geldschwemmen und Konjunkturprogrammen sein Ende finden.
Im Grunde glaubt niemand dem Gerede von der dauerhaften Bewältigung der Krise, nicht einmal dem eigenen. Hinter der Fassade der abermals aufgemalten „blühenden Landschaften“ gärt nach wie vor der Sozialdarwinismus von verunsicherten Mittelschichten. Wenn sich die hochgradig defizitären ökonomischen und damit auch die ideologischen Rettungspakete als Flop entpuppen, werden auch die rot-grünen postmodernen Lifestyle-Spießer der „neuen Mitte“, die sich bis jetzt noch sozialmoralisch und medial weltoffen geben, eine scharfe Rechtswendung vollziehen. Das wirft die Frage auf nach dem weiteren Schicksal der linken Gesellschaftskritik, die bis in ihren radikalen Flügel hinein sozial und habituell demselben Milieu angehört.
Eigentlich darf die Linke eine historische Schranke der kapitalistischen Dynamik genauso wenig realisieren wie die offiziellen Hüter der herrschenden Ordnung, weil sie darauf noch weniger vorbereitet ist. Die kritische Aufarbeitung des realsozialistischen Zusammenbruchs vor zwanzig Jahren wurde systematisch verweigert. Von der einzig konsequenten historischen und krisentheoretischen Einordnung der Wert-Abspaltungskritik wollten nur wenige etwas wissen. Stattdessen gefiel sich die akademische und politische Linke zu erheblichen Teilen darin, geradezu aufatmend im nunmehr „alternativlosen“, nur noch sozial zu „bändigenden“ Kapitalismus ankommen oder das hölzerne Eisen einer „sozialistischen Marktwirtschaft“ schmieden zu wollen. Schon vorher war der Arbeiterbewegungsmarxismus nicht kategorial transformiert, sondern in eine neue Mittelschichtsideologie umgedeutet worden. Den Katalysator bildete der Postmodernismus im weitesten Sinne, der am deutlichsten in den begriffslosen postoperaistischen Volksgesängen seinen Ausdruck fand und „bewegungstauglich“ wurde für ein verkürztes, nur noch symbolisches Praxisverständnis.
Vor diesem Hintergrund hätte man annehmen können, dass eine derart postmodern frisierte Linke vorschnell in den offiziellen Entwarnungsdiskurs einstimmt, um zur gewohnt langweiligen Tagesordnung übergehen zu können. Aber dieser Linken ist doch der Schreck in die Glieder gefahren, ohne dass sie sich krisentheoretisch auch nur einen Millimeter weiterbewegen würde. Sie wartet gewissermaßen mit eingezogenem Kopf auf die nächsten Schläge der lange Zeit verleugneten negativen Objektivität. Die sekundäre „Naturgesetzlichkeit“ der Krise wird so nicht zur Transformation der Kritik zugespitzt, sondern die längst stumpf gewordene, subjektideologische Kritik in ein Selbsterhaltungsprojekt des eigenen kapitalistischen Daseins umgebogen. Die Linke hat gewissermaßen verpackungskünstlerisch damit begonnen, sich quer durch ihr Spektrum selber zu einem ideologischen Rettungspaket zu verschnüren.
Deshalb ist nicht die verschärfte theoretische Auseinandersetzung um unklar gewordene Grundfragen zu beobachten, sondern im Gegenteil das Verkleistern aller inhaltlichen Gegensätze, um bloß nicht auch nur versehentlich in die Problemzone kategorialer Kritik zu geraten. Obwohl mit der Finanzblasen-Ökonomie die gesellschaftliche Geschäftsgrundlage des Postmodernismus weggebrochen ist, feiert dessen Ambivalenz- und Kontingenz-Metaphysik in der akademischen und bewegungsideologischen Linken letzte Triumphe. Fast schon droht der große Vereinigungsparteitag einer „Vielfalt“, deren einziger Zusammenhang in wechselseitiger theoretischer Verwässerung besteht. An die Stelle des notwendigen Kampfs um eine neue historische Wahrheit tritt die fade Cross-dressing-Party als Fasching der alten theoretischen Schulen; eine wüste „Zusammendenkerei“, die keinerlei theoretische Synthese leistet, sondern einen ungenießbaren Mantsch zusammenrührt, dessen affirmativer „Sinn“ sich erst aus der Kritik dieser Vorgehensweise erschließt.
Zentral bleibt das Postulat einer totalen Kulturalisierung des Sozialen. Während es bei Marx und Adorno noch Voraussetzung ist, dass gesellschaftliche Verhältnisse immer auch (keinesfalls als solche isolierbare) Naturverhältnisse darstellen, wird das Naturmoment von der postmodernen Ideologie gelöscht. Dem entsprechen die Verleugnung jeglicher Substanz- oder Wesensbestimmung und ein Kult der habituellen Oberflächlichkeit. So negiert die dekonstruktivistische Queer-Denkerei, dass sich die sozialhistorischen Konstruktionen von Geschlechtlichkeit überhaupt mit einer männlichen und weiblichen Körperlichkeit vermitteln, was auch für schwule und transsexuelle Beziehungen gilt, also nichts mit einer „Heteronormativität“ zu tun hat. Wenn es aber männliche und weibliche Körper als Projektionsflächen gar nicht „geben“ soll, löst sich das hierarchische Geschlechterverhältnis in beliebig „verschiebbare“ abstrakte Individualitäten auf und die Kritik an der gesellschaftlich tief sitzenden geschlechtlichen Abspaltung wird gegenstandslos gemacht. So erweist sich Queer als ideologisches Rettungspaket des androzentrischen Universalismus in der Krise und wird gerade deswegen inflationär.
Ein ähnlicher Effekt ergibt sich, wenn sowohl der Postoperaismus als auch die „neue Marx-Lektüre“ die Marxsche Wert- und Geldtheorie gut postmodern als „substantialistisch“ und „naturalistisch“ denunzieren. Die Realabstraktion soll nur als zirkulativer Akt stattfinden und dem Geld wird der Warencharakter abgesprochen, womit sich allerdings die objektive Quantifizierung des Werts in Nichts oder in eine bloß handlungstheoretisch begründete institutionelle Konvention auflöst. Diese theoretische Revision bildet das zentrale Moment einer Abrüstung der Kritik der politischen Ökonomie, um auch diese dem ideologischen Rettungspaket einzuverleiben. Impliziert ist damit nämlich, dass der Staat die reale Verwertung und deren Ausdruck in der Geldform nicht zu seiner unverfügbaren (objektiven) Voraussetzung hat, sondern darüber als „letzte Instanz“ das politische Kommando und damit die Kompetenz zur Krisenbewältigung besitzen soll.
Genau an diesem Punkt wird die Konvergenz der bürgerlichen und postmarxistischen Krisenreaktionen deutlich. Die Lage ist ernst, aber kapitalistisch hoffnungsvoll, weil der Staat als Instanz der Anrufung letztentscheidend bleibt. Die negative linke Staatsgläubigkeit, wie sie noch in der älteren kritischen Theorie anzutreffen ist, schlägt um in eine positive etatistische Wende, die man nicht einmal mehr als schleichend bezeichnen kann. Allenthalben beschwören sich die abgeschifften linksradikalen Milieus gegenseitig, parlamentarische Orientierungen und Wahlvereine dürften nicht „ausgegrenzt“ werden, weil man selber schon kaum mehr klammheimlich auf diesem Trip ist. Die theoretische Cross-dressing-Party ist gleichzeitig eine politizistische oder vielmehr deren Vehikel. Fast hat es den Anschein, als wollte man sich als ideologisches Rettungspaket dem Staat andienen, um die Karriere der früheren Neuen Linken bis in die Ministerialbürokratie zu wiederholen. Mag diese Option unter den veränderten Bedingungen auch illusionär sein, so scheint doch gerade die nicht mehr taufrische Bewegungslinke das neoliberale Motto von der „Krise als Chance“ auf ihre Weise ernst zu nehmen.
Im Feld der Gesellschaftskritik besteht also die erste durchschlagende Wirkung des ökonomischen Einbruchs offenbar in einer postmodernen Sozialdemokratisierung auch eines Großteils der sogenannten radikalen Linken; und zwar unter Einschluss einer verkürzten Billig-Wertkritik, die schon keine mehr ist. Die von EXIT vertretene Wert-Abspaltungskritik wird natürlich diese Tendenz nie und nimmer mitmachen,  sondern im Gegenteil die theoretische Polemik dagegen entfalten. Es geht nicht darum, den buchstäblich kreuz und queer umherirrenden linken Szenen nachzulaufen, sondern in der begründeten Abgrenzung von deren ideologischer Implosion das neue Paradigma zu behaupten. Hatte die theoretische Transformation sich zunächst auf die Kritik des Arbeiterbewegungsmarxismus fokussiert, so steht nun eine verstärkte Kritik der postmodernen Metamorphosen auf der Tagesordnung. In diesem Sinne hat die vor kurzem erschienene Ausgabe unserer Zeitschrift (EXIT 7) mit einer kritischen Intervention zur Staatstheorie und damit zusammenhängenden Problemen begonnen.
Darüber hinaus sind die noch nicht bis zur Erscheinungsreife gediehenen theoretischen Projekte einer Weiterentwicklung der Kritik der politischen Ökonomie keineswegs auf Eis gelegt, auch wenn sie mehr Zeit in Anspruch nehmen als vorhergesehen. Sicherlich stellt sich seit dem Kriseneinbruch mehr denn je die Frage, ob ein Theoriebildungs-Zusammenhang wie EXIT dauerhaft gegen den Strom im linken Wissenschafts- und Politikbetrieb schwimmen kann. Immerhin war im vergangenen Jahr eine verstärkte Aktivität und Vernetzung von wert-abspaltungskritischen Lese- und Diskussionszirkeln zu verzeichnen, die keine Fähnchen schwenkende Gemeinde bilden, sondern eine eigenständige Begründungsfähigkeit der wert-abspaltungskritischen Theorie gerade gegen den gängigen Eklektizismus und Synkretismus zu entwickeln suchen. Deshalb war auch das Experiment einer Erweiterung und Verjüngung der EXIT-Redaktion möglich. Ob daraus ein häufigeres Erscheinen mit mehr Interventionsmöglichkeiten resultiert, wird sich zeigen. Die InteressentInnen von EXIT sind aufgefordert, in diesem Sinne das Projekt auch 2011 nach ihren Möglichkeiten zu unterstützen.
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