Der Irak-Krieg und die Struktur der imperialen Macht
Der Präventivkrieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak, so scheint es, hat nicht nur zahlreiche Menschenleben und die Infrastruktur dieses ohnehin ausgepowerten Landes vernichtet. Auf der Strecke geblieben ist auch die bislang demonstrierte Einmütigkeit des Westens. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg geht ein Riß durch die politische Allianz der NATO-Staaten. Die in den Jahrzehnten des Kalten Krieges ausgebaute Integration der alten kapitalistischen Kernländer zu einem Imperium der Pax Americana hatte noch das erste Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Pax Sowjetica überdauert und sich in einer ganzen Reihe von Weltordnungskriegen und weltpolizeilichen Maßnahmen gegen die "Unsicherheitszonen" der zerfallenden Peripherie reproduziert. Der Dissens über den Irak markiert einen Umschlagspunkt. Seit Anfang 2003 spricht der Westen nicht mehr mit einer Stimme. Schon ist die Rede von einer neuen weltpolitischen Achse Paris – Berlin – Moskau. Verschieben sich die Gewichte der globalen Macht, ist dieser Dissens der Beginn eines großen historischen Schismas?
Zweifellos zeigen der völkerrechtswidrige Präventivschlag und der Konflikt innerhalb der NATO, daß die imperiale Macht ihre Contenance zu verlieren beginnt. Mit jedem neuen Schub der globalen Krise steigt der Grad der Nervosität, mit jedem neuen Herd der Destabilisierung wächst die Unsicherheit über die weitere Vorgehensweise. Kein Wunder, daß innerhalb der imperialen Struktur Differenzen aufbrechen. Aber die Frage ist, worin diese Differenzen eigentlich bestehen und worauf sie hinauslaufen. Schon seit Anfang der 90er Jahre gibt es einen nostalgischen Diskurs unter linken ebenso wie unter konservativen Ideologen, die eine neue Ära der imperialen Konkurrenz heraufziehen sehen. Der Kalte Krieg, so heißt es, habe nur die Rivalität der großen kapitalistischen Mächte untereinander überdeckt, da sie einen gemeinsamen Feind hatten. Nachdem dieser Feind nun verschwunden sei, werde die Welt zu einem Zustand wie vor 1914 zurückkehren. Der akute Dissens innerhalb der NATO scheint Wasser auf die Mühlen dieser Argumentation zu sein und sie plausibler zu machen als etwa noch während der Kosovo-Intervention von 1999.
Aber eine von der Oberfläche der Erscheinungen bestimmte Interpretation bleibt assoziativ und feuilletonistisch. Historische Analogieschlüsse sind immer falsch und eher von Stimmungen oder von legitimatorischen Bedürfnissen geleitet als von theoretisch stichhaltigen Analysen. Das Unbekannte macht Angst und stiftet Verwirrung; deshalb möchte man die neue Situation der Welt nach dem Epochenbruch in ein vertrautes Muster der Vergangenheit einordnen. Der defizitäre Charakter des nostalgischen Imperialismus-Diskurses ist aber schon in seinen Voraussetzungen zu erkennen. Denn natürlich war die Epoche von Pax Americana und Pax Sowjetica nicht bloß eine zeitweilige Unterbrechung der Konkurrenz zwischen nationalen Imperien. Mit dem Kalten Krieg ging ein globaler Strukturwandel einher. Die imperiale Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten drehte sich nicht mehr primär um die nationale Aneignung von Territorien, Arbeitskräften, Rohstoffen und Märkten, sondern um die ordnungspolitische Kontrolle eines globalen politisch-ökonomischen Raums. Im Schatten des Systemkonflikts bildeten sich unter dieser Hülle transnationale Strukturen des Kapitalismus heraus, die schließlich zum Prozeß der Globalisierung führten.
Es gibt kein Zurück hinter diese Entwicklung, wie es auch schon in der Vergangenheit keine Umkehr der kapitalistischen Dynamik gegeben hatte. Das moderne warenproduzierende System ist kein Zustand, sondern ein irreversibler Prozeß. Diejenigen, die zu einem "geopolitischen" Räsonnement nach dem Muster der globalen Konstellation zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückkehren wollen, tun aber plötzlich so, als hätte es den grundlegenden Strukturwandel in der Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht gegeben. Zu dieser anachronistischen Fehldeutung gehört auch die Illusion, daß die Akkumulation des Kapitals überall wunderbar floriere und die Flut von "neuen Kriegen", sozialökonomischen Zusammenbrüchen und Massenmigration gar nichts mit dem universellen Modell von "Marktwirtschaft und Demokratie" zu tun habe. Die fundamentale Krise der 3. industriellen Revolution wird ebenso ignoriert wie die neue kapitalistische Tendenz der Globalisierung; und das ist nur folgerichtig, denn beide Prozesse sind eng mit einander verbunden.
Es ist kein Wunder, daß gerade die restlichen Vertreter eines traditionellen Marxismus ihr Heil in den Mustern einer unwiederbringlichen Vergangenheit suchen. Denn die Interpretation der Marxschen Theorie war von der westlichen Arbeiterbewegung bis zu den "nationalen Befreiungsbewegungen" des Südens für mehr als ein Jahrhundert an die Paradigmen "nachholender Modernisierung" in den Formen des modernen warenproduzierenden Systems gefesselt. Jetzt möchte man am liebsten mit der antiken Imperialismustheorie Lenins dort weitermachen, wo man 1914 aufgehört hat, um sich den Problemen der neuen Epoche nicht stellen zu müssen. Aber auch Vertreter der europäischen bürgerlichen Intelligentsia sehen sich veranlasst, die Uhren der Geschichte rückwärts zu drehen, wenn auch mit anderen Motiven als die traditionellen Marxisten. So nimmt der bekannte französische Historiker Emmanuel Todd den aktuellen Konflikt in der NATO zum Anlaß, um die kommende "geopolitische" Emanzipation der EU von den USA vorauszusagen, im Verein vielleicht mit Rußland und China.
Schon ein äußerer Faktor spricht gegen derart rückwärts gewandte Deutungen des westlichen Dissens. Dieser Faktor besteht in der uneinholbaren militärischen Überlegenheit der USA. In dem halben Jahrhundert nach 1945 hat der militärisch-industrielle Komplex der westlichen Supermacht die neuartige Dimension einer "permanenten Kriegswirtschaft" angenommen. Der Kern dieses Komplexes wurde in der Zeit der globalen Prosperität zwischen dem Korea- und dem Vietnamkrieg aufgebaut. Ein derartiger Kraftakt ist schon deshalb nicht wiederholbar, weil die Quellen der Prosperität längst versiegt sind, die es erlauben würden, noch einmal die Basis einer vergleichbaren unproduktiven Militärindustrie zu finanzieren. Darauf aufbauend, konnten allein die USA in der Ära der "Reaganomics" einen zweiten historischen Schub der Aufrüstung auf den Weg bringen, auch wenn dieser bereits durch eine historisch beispiellose Defizit-Ökonomie erkauft war. Bekanntlich bildete der aufgeblähte Militär-Keynesianismus der USA in den 80er Jahren eine der Ursachen für den Kollaps der Sowjetunion, die das Wettrüsten nicht mehr mithalten konnte.
In den Weltordnungskriegen der 90er Jahre hat sich der Abstand der US-Militärmaschine gegenüber allen anderen Staaten weiter vergrößert. Heute ist der Rüstungs-Etat der USA immer noch Jahr für Jahr ungefähr zehnmal so hoch wie derjenige von Frankreich, Deutschland und Großbritannien zusammengenommen. Der technologische Vorsprung beträgt bei den meisten High-Tech-Waffensystemen mehrere Generationen. Selbst wenn die EU eine wirkliche politische Einheit wäre, was sie nicht ist, würde sie viele Jahrzehnte benötigen, um mit einem eigenständigen militärisch-industriellen Komplex auch nur in die Nähe der USA zu kommen. Abgesehen davon wäre ein solches Projekt unter den gegenwärtigen ökonomischen Bedingungen völlig unfinanzierbar. Emmanuel Todd versucht daher gar nicht erst, die von ihm prognostizierte "geopolitische Emanzipation" der Europäer militärpolitisch und rüstungsökonomisch zu begründen. Stattdessen verweist er ziemlich lahm darauf, daß Europa gerade deshalb stark sein könne, weil es "den Militarismus ablehnt". Das ist nett gesagt, aber es kann sich nicht ernsthaft auf die Welt der imperialen Politik beziehen. In der freien Wildbahn der kapitalistischen Macht ist immer noch derjenige Primus, der den größten Knüppel für den Totschlag vorzeigen kann.
Aber natürlich bildet nicht die äußere militärische Überlegenheit den letzten Grund der Hegemonie, sondern die ökonomische Potenz. Diese ist allerdings nicht isoliert zu betrachten, sondern immer nur im Kontext der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. Wenn das Kapital als solches an Grenzen stößt, wird das Problem der Krise entscheidend, nicht das Problem der Hegemonie. Todd aber will (genau wie die traditionellen Marxisten) von einer historischen Krise der kapitalistischen Akkumulation nichts wissen, in dieser Hinsicht bewegt sich für ihn die Welt "in Richtung Stabilität". Vor dem Hintergrund dieser angeblichen Stabilität glaubt er nun eine wachsende ökonomische Abhängigkeit der USA von der übrigen Welt zu erkennen, die zeige, daß der Hegemon auf tönernen Füßen steht. Das ist durchaus richtig. Die innere Defizit-Ökonomie der USA ist bedingt durch eine äußere. Seit Ende der 70er Jahre wächst das Defizit in der Handels- und Kapitalbilanz der westlichen Supermacht kontinuierlich an. Die USA konsumieren immer mehr, während sie immer weniger produzieren; sie kaufen auf Pump, ohne selber zu sparen. Sie saugen das Geldkapital der Welt auf, um damit die Warenströme der Welt aufzusaugen.
Aber Todd tut so, als wäre das nur ein Problem der USA, das deren Hegemonie schließlich zugunsten Europas zu Fall bringen müsse. In Wahrheit sind aber nicht bloß die USA ökonomisch von der Welt abhängig, sondern umgekehrt auch die Welt von den USA. Die Schwäche der letzten Weltmacht ist auch die Schwäche Europas und die Schwäche aller übrigen Weltregionen. Todd betrachtet die Schwäche der USA isoliert, weil er den Zusammenhang von Krise und Globalisierung leugnet. Innerhalb dieses Zusammenhangs aber wird klar, daß es sich um eine Interdependenz handelt, die von der historischen Schwäche der kapitalistischen Akkumulation im allgemeinen verursacht wird. Mangels rentabler Möglichkeiten der Investition transferiert alle Welt ihr überschüssiges Geldkapital in die USA, die damit die überschüssigen Waren der Welt kaufen. Der defizitäre Militär-Keynesianismus bildet dabei den ökonomischen Katalysator. Sobald dieser defizitäre Kreislauf zum Stillstand kommt, wird die Krise der USA auch zur Krise Europas und der übrigen Weltregionen.
So gesehen kann es gar nicht um die Ablösung der US-Hegemonie durch eine andere (europäische oder eurasische) Hegemonie gehen. In Wirklichkeit sind die zentralen westlichen Staaten allesamt auf die imperiale Struktur der Pax Americana angewiesen, in die sie durch den Prozeß der Globalisierung und den damit verbundenen Defizit-Kreislauf negativ integriert sind. Der westliche Dissens kann also gar nicht aus einer neuen, ökonomisch begründbaren imperialen Konkurrenz von unabhängigen Nationalstaaten hervorgehen. Was sich vor unseren Augen vollzieht, ist nicht ein Wechsel der hegemonialen Macht in einem stabilen Bezugssystem weltkapitalistischer Reproduktion, sondern vielmehr die säkulare Krise dieses Bezugssystems selbst, die jede hegemoniale Konkurrenz gegenstandslos macht.
Der Dissens innerhalb des Westens ist ein Ausdruck dieser gemeinsamen Krise im Kontext der Globalisierung. Nur oberflächlich nimmt er die Form eines Gegensatzes von nationalen Regierungen (Washington und London versus Paris, Berlin und Moskau) an. Das rührt allein daher, daß der ökonomische Inhalt der Globalisierung an die politische Form der nationalen Staatlichkeit gefesselt bleibt, die sich ihrer Natur nach nicht ebenso globalisieren kann. Deshalb erscheint die imperiale Struktur der Globalisierung weiterhin als Verhältnis von nationaler Macht der USA und zweitrangiger Staaten des Westens. Form und Inhalt befinden sich im Widerspruch. Was der Form nach als nationaler Dissens erscheint, ist dem Inhalt nach ein Dissens in der imperialen Gesamtstruktur quer durch die nationalen Eliten über das weitere Vorgehen. Teile des Managements und der politischen Klasse in Frankreich und Deutschland vertreten die Position der US-Regierung wie umgekehrt Teile des Managements und der politischen Klasse in den USA und Großbritannien die Position der französischen und deutschen Regierung.
Der Gegensatz ist kein substantieller, weil es um die Verteidigung des gemeinsamen Bezugssystems geht. Es handelt sich auch nicht um einen ideologischen Dissens, denn die Berufung auf das neoliberale Paradigma, auf "Marktwirtschaft und Demokratie", auf die Menschenrechte usw. ist kein Streitgegenstand. Ebensowenig geht es um eine strategische Differenz, da die Ziele des gemeinsamen westlichen Sicherheits- und Ausgrenzungs-Imperialismus identisch sind. Noch nicht einmal von einem Konflikt zwischen "Falken" und "Tauben" kann man streng genommen sprechen, denn beide Seiten befürworten prinzipiell militärische Interventionen und Präventivschläge, wie es das gemeinsam festgelegte "Neue Strategische Konzept" der NATO vom April 1999 aussagt.
Der Konflikt ist allein ein taktischer und legitimatorischer. Die "Legitimisten" wollen die Weltordnungskriege nach außen weiterhin durch die institutionelle Legitimation von "Souveränität", Völkerrecht und UNO flankieren, wie ihrer Meinung nach auch für das Regime der sozialen Repression nach innen die institutionellen Formen der westlichen Demokratie und für die Regulation der Krise einige Restbestände staatlicher Kompetenz gegenüber der globalisierten Ökonomie beibehalten werden sollen. Die Hardliner dagegen sind bereit, unter Führung der USA zu einer Art globalen Militärdiktatur überzugehen, die nach außen wie nach innen mit allen institutionellen Regeln bricht, die Krisenverwaltung verschärft und die Globalisierung rücksichtslos vorantreibt. Von der staatlichen Kompetenz soll nur die Funktion des globalen Leviathan in Gestalt der US-Militärmaschine übrigbleiben; die forcierte Deregulierung führt zur bewußten Delegitimierung.
Vielleicht ist die Position der Hardliner angesichts der fortgeschrittenen Weltkrise vom Standpunkt der kapitalistischen Logik aus gesehen die "realistischere". Die fundamentale Krise der 3. industriellen Revolution ist damit aber dennoch nicht zu bewältigen. Auch der High-Tech-Gewaltapparat kann die Gespenster der vom System selbst erzeugten Barbarei nicht bannen. Das Resultat könnte tatsächlich darin bestehen, daß die hybride Form einer globalen Vergesellschaftung durch das Kapital zerbricht. Die rein negative Vereinigung der Menschheit in einem universellen Raum blinder Konkurrenz ist nicht durchzuhalten. Wenn in diesem Sinne die USA, Europa und Japan/Südostasien auseinanderbrechen, wird das aber erst recht keine Rückkehr zu den alten Formen imperialer Konkurrenz bedeuten. Es wäre vielmehr das Ende des gemeinsamen politisch-ökonomischen Bezugssystems. Auch die "entwickelten" westlichen Länder werden dann auf sich selbst und ihre innere Krisenbarbarei zurückgeworfen, wie es jetzt schon die zerfallenden Regionen der globalen Peripherie vorexerzieren.
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire