dimanche 5 décembre 2010

AUF MESSERS SCHNEIDE

Offener Brief an die InteressentInnen von EXIT zum Jahreswechsel 2009/10
Stell Dir vor, es ist Weltwirtschaftskrise, und keiner geht hin. Das war sozusagen die Herzensparole der vereinigten Ignoranten vor genau einem Jahr. „Hurra, wir leben noch!“, so titelte der „Spiegel“ zwölf Monate später. Es ist das indirekte Eingeständnis, dass die Erschütterung größer war als damals zugegeben; aber gleichzeitig ein voreiliges Triumphgeheul, weil man sich noch einmal davongekommen wähnt. Dabei gehört nicht viel Phantasie, Einsicht und Prognosevermögen dazu, um zu erkennen, dass die nächste Tsunami-Welle des globalen ökonomischen Bebens mit Sicherheit kommen wird. Nach der langen Serie von Finanzcrashs verschiedenster Art seit den 1980er Jahren ist der globale Krisenprozess der 3. industriellen Revolution 2008 in eine neue Qualität eingetreten, die ihre eigenen Verlaufsformen nimmt. Bemerkenswert ist die nochmalige Verkürzung des positivistischen Wahrnehmungshorizonts. Die „wissenschaftlichen“ Instrumente sind weitgehend ausgefallen: „Wir fahren auf Sicht“, so der neue deutsche Finanzminister Schäuble. Und ein hochrangiger Daimler-Manager durfte verkünden, dass die Planungsperspektive für Modellpolitik, Marketing und Absatzstrategien von 12 Jahren auf 12 Monate geschrumpft sei.
Obwohl nach dem Platzen der Finanzblasen staatliche Mega-Kreditaufnahmen und eine nochmals forcierte Geldschwemme der Notenbanken die mangelnde reale Verwertungssubstanz nur partiell ersetzt und den globalen ökonomischen Einbruch bestenfalls auf ein faktisches Nullwachstum abgebremst haben, wird über eine staatliche „Exit“-Strategie fabuliert, sobald der vermeintliche „Anschub“ gelungen sei und die autonomen Marktprozesse neues Wachstum generieren würden. Diese Erwartung ist völlig unbegründet. Die Stimmungsmache des institutionellen Optimismus hangelt sich ein Jahr nach dem großen Finanzcrash an Quartalszahlen entlang, deren Wachstumsprozente sich auf das Ausgangsniveau nach dem Absturz beziehen und die wirkliche Situation der globalen Kapitalverwertung schönfärben. Deshalb gibt es in der Wirtschaftswissenschaft und bei den Finanzanalysten auch eine gar nicht so kleine Pessimistenfraktion, die zwar natürlich die bürgerlichen Grundannahmen teilt, aber in Bezug auf die vorgeblich bereits gelungene Krisenbewältigung starke empirische Zweifel anmeldet. Damit beweisen die bürgerlichen Skeptiker immerhin noch mehr Realitätsbewusstsein als ein bestimmter Teil der Linken, der nach dem ersten Schrecken genau wie die offiziellen Entwarnungs-Strategen sein Urvertrauen in den Kapitalismus schnell wiedergefunden hat und gerne glauben möchte, zu seiner gewohnten Tagesordnung zurückkehren zu können.
Tatsächlich wird entweder den Staatsfinanzen der Sprit abgedreht und der Ausstieg aus der hemmungslosen Kreditaufnahme und Geldpolitik den nächsten Absturz einleiten oder umgekehrt der Versuch, diese staatliche Substitution realer Verwertung fortzusetzen, unkontrollierbare inflationäre Schübe entfesseln; auch wenn davon niemand etwas wissen will, obwohl es allen bekannt ist. Das gilt ganz besonders für China, das den Einbruch seiner von westlichen Investitionen getragenen Exportindustrialisierung 2009 durch den kreditfinanzierten Aufbau zusätzlicher Industrie- und Infrastruktur-Kapazitäten überbrückt hat. Diese mechanische Erweiterung setzt voraus, dass die pazifische Defizitkonjunktur binnen Jahresfrist wieder anspringt, wenn sich die zusätzlichen Kapazitäten nicht in Investitionsruinen verwandeln und einen spezifisch chinesischen Finanzcrash auslösen sollen. Es ist aber überhaupt nicht ersichtlich, woraus jenseits des Pazifik eine entsprechende neue Aufnahmefähigkeit der USA für die einseitigen Importströme resultieren könnte, nachdem die Zufuhr substanzloser Kaufkraft aus den geplatzten Finanzblasen weitgehend zum Erliegen gekommen ist. Dass die Chinesen ihren Warenüberschuss nun selber konsumieren oder sogar noch den der restlichen Welt wie zuvor die USA aufsaugen könnten, ist völlig illusorisch. Die chinesische Binnenkaufkraft musste strukturell ebenso weit hinter den Produktionskapazitäten zurückbleiben wie auf der anderen Seite die industrielle Eigenproduktion der USA hinter dem Konsum. Das war die Geschäftsgrundlage für die wechselseitige Bedingtheit von Finanzblasen-Ökonomie und globaler Defizitkonjunktur, die nicht durch staatlichen Ukas ins Gegenteil verkehrt werden kann.
Selbst wenn die nunmehr staatlich gesponserte Simulation realer Kapitalverwertung noch eine Weile durchgehalten werden kann, wird sie das Niveau der Zeit vor dem globalen Finanzkrach nicht mehr erreichen und nur noch eine Stagnation verwalten. Deshalb ist es unausweichlich, dass die sozialen Folgen des extrem reduzierten Wachstums nach der ersten Welle der neuen Krise zeitversetzt auch in der BRD ankommen; nicht nur in Form einer stark steigenden Massenarbeitslosigkeit 2010 und 2011, sondern auch als weitere Ausdehnung des Billiglohnsektors und als verschärfter Sozialabbau durch die Krisenverwaltung. Die von Klientelpolitik bestimmten Steuersenkungspläne der schwarzgelben Regierung beruhen einzig auf dem Wunderglauben an eine Aussicht auf selbsttragendes Wachstum, woraus sie sich automatisch finanzieren sollen. Ob diese abenteuerliche Finanzpolitik nun realisiert wird oder im Koalitionshickhack zerbröselt, in jedem Fall ist zu erwarten, dass die staatlichen und kommunalen Dienste spätestens nach der Landtagswahl in NRW dramatisch heruntergefahren oder verteuert werden, um die schwelende Krise der Staatsfinanzen notdürftig zu kaschieren. Aufgrund der nunmehr erreichten Dimension staatlicher Verschuldung reichen aber traditionelle Sparmaßnahmen längst nicht mehr aus; ganz davon abgesehen, dass sie das erhoffte Wachstum erst recht abwürgen müssen.
Überall in der Welt befinden sich die plötzlich wieder als „deus ex machina“ angerufenen Staaten in einer ähnlichen Zwickmühle, auch wenn die jeweilige Situiertheit in den Weltmarktbeziehungen bei einem extremen Gefälle der historischen Akkumulationsniveaus ganz unterschiedlich ist. Die ökonomische und soziale Reproduktion des Weltkapitals steht aktuell auf Messers Schneide, und keine Weltregion bleibt im globalen Verkettungszusammenhang vom weiteren Krisenverlauf ausgespart.
Zum andern aber vollstrecken die abstrakten Individuen in ihrer spezifischen sozialen Lage oder umgekehrt die verschiedenen sozialen Lagen in ihrer abstrakten Individualität nicht bloß passiv die objektivierte Dynamik. Vielmehr bilden sich als Reaktion auf diese gleichzeitig Herde ideologischer Verarbeitungsprozesse, von denen die gesellschaftlichen Verlaufsformen aktiv beeinflusst werden. Insofern kann kritische Theorie nur aus einer Einheit von begrifflicher Durchdringung der negativen Fetisch-Objektivität, ökonomischer Analyse der inneren Krisenschranke, sozialer Analyse der unterschiedlichen Lagen und umfassender Ideologiekritik bestehen. Erst darüber ist ein Verständnis „konkreter Totalität“ annäherungsweise möglich. Dieser von der weiterentwickelten Wert-Abspaltungskritik seit einigen Jahren zunehmend ins Spiel gebrachte Zusammenhang wird im Verlauf der aktuellen Weltkrise und ihrer Wahrnehmung auf durchschlagende Weise virulent. Deshalb ist in der Theoriebildung von EXIT neben die kategoriale Kritik und radikale Krisentheorie nicht nur die kritische Analyse eigenständiger ideologischer Bewusstseinsformen und Paradigmen, sondern auch soziologischer Strukturen der Krisenverwaltung und von Daseins- bzw. Denkweisen der sogenannten neuen Mittelschichten getreten.
Schon vor dem Absturz der künstlich ernährten Weltkonjunktur hatte sich das Dilemma mangelnder Finanzierungsfähigkeit der infrastrukturellen „Wissensaggregate“ in dem Versuch niedergeschlagen, die einschlägigen Sektoren unter notorischer Verleugnung ihres Charakters zu privatisieren und zu ökonomisieren, um sie gewaltsam als Potentiale direkter Verwertung zu erschließen. Diese systemische Reaktion führte zu Prekarisierungsprozessen, in denen das qualifizierte Humankapital sukzessive ebenso entwertet wird wie die Ware Arbeitskraft insgesamt. In den qualitativ neuen Verlaufsformen der Krise verschärft sich diese Tendenz. Die kulturalistische Selbststilisierung nicht nur der kommunikationstechnologischen und systemanalytischen Intelligentsia als eine Art lockere „Boheme“ nimmt unangenehme Züge eines wirklichen sozialen Niedergangs an. Entscheidend ist, wie dieser Prozess im Bewusstsein verarbeitet wird. Kritische Theorie lebt davon, dass die negative Erfahrung grundsätzlich zu radikal gesellschaftskritischen Konsequenzen führen kann. Niemand ist gezwungen, sich in der Krise auf seine kapitalistische Daseinsform selbstaffirmativ zu reduzieren und das ohnehin illusorisch gewordene „kulturelle Kapital“ eines Einbildungsbürgertums gerade unter Prekarisierungsbedingungen gegenüber „minderen“ sozialen Lagen heraushängen zu lassen, statt die herrschende Gesellschaftsform grundsätzlich in Frage zu stellen. Dennoch treibt die Schwerkraft der Verhältnisse zu entsprechenden Krisenideologien der vom Absturz bedrohten neuen Mittelschichten.
Von China (dort steigt die Akademiker-Arbeitslosigkeit trotz der mit Konjunkturpaketen in der Größenordnung von 13 Prozent des BIP subventionierten Wachstumsraten unaufhaltsam an) bis Europa nimmt ein marktkonformes Denken des Wissenschaftsbetriebs, das mit seinem besseren Pidgin-Englisch Weltläufigkeit suggeriert und dabei jede begriffliche Reflexion verflacht oder ganz abwürgt, krasse sozialdarwinistische und rassistische Züge an. Die Fälle Sloterdijk, Bolz oder Sarrazin in der BRD bilden nur die Spitze eines Eisbergs von angesammeltem Hass gegen die kritische Theorie. Dieser geistige Selbstbetrug einer Elite-Ideologie klammert sich an die ökonomisch haltlose Vorstellung, die ausgeleierte industrielle Kapitalverwertung könne tatsächlich durch eine „Wissensverwertung“ ersetzt und übertroffen werden, in der man sich unter Inkaufnahme einer Massenarmut der „anderen“ als neue Trägerschicht des Kapitals mit Potentialen von „Autonomie“ für eine besserverdienende Selbstverwirklichung gerne einrichten möchte. Blauäugige Krisenverleugnung und erhoffte Krisenbewältigung für vermeintlich privilegierte Positionen verbinden sich in einem Klientelbewusstsein, das in der BRD den Wahlerfolg der FDP garantiert hat.
Dieser Wille zur bürgerlichen Selbstbehauptung von prekären Adepten der sogenannten „Wissensgesellschaft“ mit Drang zur Bonsai-Reputation geht bis in die Bewegungsideologie und den akademischen Restmarxismus hinein. Nachdem das Paradigma des „proletarischen Klassenstandpunkts“, das seine historische Bezugsmasse verloren hat, bis zur Unkenntlichkeit verblasst ist, machen sich die prekarisierten Segmente des qualifizierten Humankapitals als eigene soziale Basis geltend. Statt den inneren Zusammenhang von Rückgang der kapitalproduktiven Lohnarbeit, historischer Krisenschranke, Aufstieg und Fall der neuen Mittelschichten zu reflektieren, tendieren auch wachsende Teile der Linken zu einer neo-kleinbürgerlichen Grundhaltung. Deshalb führt die Krise trotz ihrer neuen Dimension keineswegs geradlinig zu einem Übergang vom Arbeiterbewegungsmarxismus zur radikalen Kritik des sozial übergreifenden basalen Formzusammenhangs. Nicht nur die politisch-ökonomische Reproduktion des Weltkapitals steht auf Messers Schneide, sondern auch die Orientierung emanzipatorischer Gesellschaftskritik, deren Mutation zu einer habituell „weichen“ linken Mittelschichtsideologie sich abzuzeichnen beginnt.
Dabei rückt der soziale Widerstand gegen die Krisenverwaltung aus dem Fokus zugunsten neo-kleinbürgerlicher Alternativkonzepte, die innerhalb kurzer Zeit im gesamten linken Spektrum komplementär zum Neokeynesianismus Raum gewonnen haben. Aus historischen Analysen vor- und frühmoderner Reproduktionselemente destillierte sozialökonomische Bestimmungen („Geschenkökonomie“, „Allmende“) werden ideologisch umgedeutet, mit Formen bürgerlicher Sozialarbeit („Ehrenamt“, „Nachbarschaftshilfe“) amalgamiert und als postkapitalistische Persepktive einer „solidarischen Ökonomie“ ausgegeben. Es handelt sich um eine Mischung von schon im 19. Jahrhundert grassierenden Ideen, die Marx zu Recht als „reaktionären Sozialismus“ und „Bourgeoissozialismus“ bezeichnet hat. Diese Konzeption geht am Wesen kapitalistischer Vergesellschaftung vorbei und kapriziert sich auf sogenannte „Modelle“ einer „anderen“ Lebensweise, die das Problem gesellschaftlicher Synthesis systematisch verfehlen. Epistemisch handelt es sich um eine Variante des bürgerlichen „methodologischen Individualismus“. Vergesellschaftung wird nicht als eigene Qualität wahrgenommen, die nur als solche transformiert werden kann, sondern heruntergebrochen auf partikulare angeblich solidarische Beziehungsverhältnisse, in denen die abstrakte Individualität nicht überwunden, sondern bloß „experimentell umdefiniert“ werden soll, ohne die wirklichen Großstrukturen anzugreifen.
Diese Pseudo-Wohlfühlperspektive für ein abstürzendes Mittelschichtsbewusstsein hat keinerlei praktische Wirksamkeit gegen das Kapitalverhältnis; aber sie wirkt identitätsstiftend im Sinne eines konfliktscheuen kleinbürgerlichen Eiapopeia, das soziale Kontrolle auf Prekarisierungsniveau impliziert. Philosophisch äußert sich dieses Syndrom darin, dass Ontologie gegen Dialektik favorisiert wird. Die arbeiterbewegungsmarxistische Ontologie der abstrakten Arbeit wird nicht überwunden, sondern als Ideologie der wertförmigen „immateriellen Arbeit“ oder der angeblich nicht-wertförmigen „allgemeinen Arbeit“ affirmiert. Damit verbunden ist ein Revival anthropologischer Grundannahmen. Das propagierte „gute Leben“ ist in Wirklichkeit die Apotheose der kriselnden bürgerlichen Alltagsexistenz sowohl einer „hausfrauisierten“ weißen-westlichen Mittelschichtsmännlichkeit als auch einer entsprechenden postfeministischen Weiblichkeit.
Das postmoderne Kleinbürgersubjekt versteht sich wieder einmal als „der Mensch“ und lädt sich mit einer vitalistischen Sinnlichkeitsideologie auf, wie sie übrigens schon seit dem späten 19. Jahrhundert das faschistische Denken vorbereitet hat.
Praxeologisch überbordet in diesem Zusammenhang ein „Unmittelbarkeitsdenken“, dessen theoriefeindliche Ressentiments unübersehbar sind. Auch die sattsam bekannte verkürzte Kritik des Finanzkapitals mit strukturell antisemitischen Zügen und ein „ökologischer Reduktionismus“, der die Krise auf das unmittelbare Naturverhältnis bzw. eine Erschöpfung der Ressourcen verkürzt (und gerade dadurch die notwendige Kritik der Naturzerstörung nicht mehr als Perspektive einer gesamtgesellschaftlichen Transformation formulieren kann), finden in diesem Feld weiteren Nährboden. Die Exklusion der wachsenden neuen Unterschichten wird bloß gönnerhaft thematisiert; in Wahrheit gelten sie als Objekt einer ökologischen und „wissensgesellschaftlichen“ Krisenpädagogik, die ihnen alle Ansprüche austreiben möchte. So fern der Wert-Abspaltungskritik eine Idealisierung der Armen als „bessere Menschen“ und als An-sich-Subjekt liegt, so wenig kann sie sich gemein machen mit dem Paternalismus derartiger Mittelschichtsideologien.
Es ist offensichtlich, dass eine verkürzte und verflachte, verwässerte und aufgeweichte „Wertkritik“ mit existentialistischer und alternativideologischer Schlagseite diesem Syndrom wesentliche Elemente zugeführt hat. Deshalb steht es auch auf Messers Schneide, ob sich die Wert-Abspaltungskritik, wie sie von EXIT vertreten wird, als theoretische Gegenöffentlichkeit behaupten kann, oder ob die „falsche Unmittelbarkeit“ einer pseudo-wertkritischen und theoriefeindlichen Lebensphilosophie das neue Paradigma usurpieren und ungestraft in die linke Bewegungsideologie einspeisen kann. Es geht nicht um Angebote im Supermarkt der Meinungen. Die „Tugend der Orientierungslosigkeit“ hat endgültig ausgedient; mehr denn je sind es die Verhältnisse selbst, die eine Parteinahme im Feld der Auseinandersetzungen verlangen. Wir bitten alle, die eine wert-abspaltungskritische Theoriebildung für unverzichtbar halten, EXIT in diesem Jahr inhaltlich, materiell und organisatorisch zu unterstützen.
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