Zwanghafte ökonomische Heilserwartungen haben Konjunktur im Herbst 2010, besonders in Deutschland. Obwohl keine einzige der globalen Krisenursachen bewältigt wurde, malen die Medien schon wieder die blühenden Landschaften eines neuen Wirtschaftswunders aus. Der Glaube an den Glauben als selbsttragende Kraft des Aufschwungs setzt die Maßstäbe für den Umgang mit der Wirklichkeit. Wer in der Optimismus-Konkurrenz zurückbleibt, hat schon verloren. Deshalb müssen in allen Instanzen übertriebene Erfolgsmeldungen um jeden Preis her. Das weltweit staatsfinanzierte Wachstum, das weiterhin unter dem Vorkrisenniveau liegt, reicht für die Höhenflüge der aktuell geldwerten Hoffnungsmacherei nicht aus. Wenn es sich aber die staatliche Administration erlaubt, die Arbeitslosenzahlen mit immer neuen Tricks zu verfälschen, und die Banken ihre faulen Kredite in Zweckgesellschaften auslagern dürfen – warum sollen dann die Industriekonzerne in der „kreativen Buchführung“ zurückstehen? Eine schönfärbende „Bilanzpolitik“ ist seit jeher gang und gäbe. Aber was sich die Konzerne in dieser Hinsicht seit dem vorgeblichen Ende der Krise erlauben, ist rekordverdächtig.
Möglich macht es die inzwischen bei allen großen Aktiengesellschaften durchgesetzte internationale Bilanzierungsnorm IFRS. Darin ist keine Spur einer stärkeren Kontrolle zu erkennen, ganz im Gegenteil. Die neuen Bilanzierungsrichtlinien geben den Finanzvorständen freie Hand für eine geradezu abenteuerliche Berechnungs-Akrobatik. Das betrifft sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft. Grundlage ist die laxe Begriffsbestimmung von Abschreibungen und sogenannten Sonderaufwendungen. So können Belastungen fast beliebig aus der Bilanz herausgerechnet werden. Siemens lässt zum Beispiel die Verbindlichkeiten seiner Finanzsparte verschwinden; Fluggesellschaften zaubern ihre Leasingkosten weg. Und trotz hoher zukünftiger Bewertungsrisiken werden die überteuerten Kosten von Firmenübernahmen nicht in einem realistischen Umfang abgeschrieben. Was dann herauskommt, hat der US-Finanzier Warren Buffett höhnisch als „bullshit-earnings“ (Schwachsinnsgewinne) bezeichnet, weil ein wachsender Teil der Voraus- oder Folgekosten nicht mehr in der offiziellen Bilanz erscheint. In Wirklichkeit sprudeln die Gewinne keineswegs so üppig, wie derzeit in den Quartalsberichten suggeriert wird.
Sinn macht die muntere Bilanzpolitik nur in Bezug auf die Finanzmärkte. Die verzweifelte Dollarschwemme der US-Notenbank treibt weder Konsum noch Investitionen, sondern einzig und allein die weltweiten Börsenkurse. Die Börsen sind jetzt weniger ein Barometer für die reale Konjunkturentwicklung, sondern eher für Gewinnerwartungen, die auf legalisierten faulen Bilanztricks beruhen. Schon ist hinter vorgehaltener Hand die Rede von einer „Bewertungsblase“ bei den internationalen Großkonzernen. Wenn diese ihre eigenen Aktien kaufen, fahren sie ganz unabhängig vom realen Geschäft Differenzgewinne ein, für die sie selbst rein rechnerisch falsche Voraussetzungen geschaffen haben. An der Abhängigkeit der Konjunktur von den Staatsfinanzen ändert das nichts, denn die neue Bewertungsblase kann kein „Konsumwunder“ mehr nähren wie zuletzt die Immobilienblase. Es handelt sich bloß um die betriebswirtschaftliche Kehrseite einer ebenso abenteuerlichen Geld- und Währungspolitik, die in einen Handels- und Währungskrieg zu münden droht. Dann wird allerdings auch aus den Bewertungsblasen der Konzernbilanzen sehr schnell die Luft entweichen.
erschienen im Neuen Deutschland
am 15.11.2010
am 15.11.2010
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire