mardi 23 novembre 2010

Der Appetit des Leviathan


Privatisierung und "schlanker Staat": eine Illusion
Zwei Seelen ringen in der Brust des modernen Menschen: die Seele des Geldes und die Seele des Staates. Der "homo oeconomicus" ist immer auch gleichzeitig ein "homo politicus". Dieser strukturellen Aufspaltung des Individuums entspricht die institutionelle Polarität von Markt und Staat. In vormodernen Gesellschaften, wie immer sie zu beurteilen sein mögen, gab es diese Aufspaltung nicht. Es herrschte vielmehr eine kulturelle Einheit, ein "Kosmos", dem die verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeiten untergeordnet waren. Das moderne warenproduzierende System hat den "Kosmos" der alten Kulturen zerstört, ohne eine neue kulturell fundierte Ordnung herstellen zu können. Stattdessen wurde das Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaftsordnung auf den Kopf gestellt: die Ökonomie ist keine Funktion einer übergreifenden Kultur mehr, sondern umgekehrt ist "die menschliche Gesellschaft zu einem Beiwerk des Wirtschaftssystems herabgesunken" (Karl Polanyi).
Das bedeutet, dass die Menschen von sich aus in diesem System keinerlei sozialen und kulturellen Zusammenhang jenseits der ökonomischen Tätigkeit besitzen. Sie sind zu "abstrakten Individuen" oder zu "vereinzelten Einzelnen" geworden, die den "fensterlosen Monaden" des Philosophen Leibniz verzweifelt ähnlich sehen. Ihr sozialer Zusammenhang wird nur noch negativ durch die ökonomische Konkurrenz hergestellt. An die Stelle des kulturell vermittelten "Kosmos" ist das Geld getreten, sodass die Gemeinsamkeit der Gesellschaft nicht als menschliche, sondern als dingliche erscheint. Jedes Wolfsrudel ist sozialer organisiert als die marktwirtschaftlichen Menschen.
Schon in der Frühzeit dieses absurden Systems hat der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) folgerichtig den Menschen als ein prinzipiell egoistisches Wesen dargestellt, das von Natur aus einsamer als ein Tier ist. Die Gesellschaft im "Naturzustand" sei deshalb nichts als der "Krieg aller gegen alle". Hobbes vergass allerdings, dass er keineswegs die "Natur" der menschlichen Gesellschaft schlechthin beschrieb, sondern das historische Resultat eines Prozesses, in dem die ersten Schübe der modernen Marktwirtschaft begonnen hatten, die alten Gemeinwesen aufzulösen. Die an den Markt gekettete neue Freiheit der Individuen war nur die Freiheit, sich den Zwangsgesetzen der Konkurrenz zu unterwerfen. Damit die Individuen sich in dieser mörderischen Konkurrenz nicht gegenseitig völlig zerfleischen, konstruierte Hobbes den Staat als notwendige Zwangsgewalt, die über den egoistischen Individuen stehen muss und der er den Namen des biblischen Ungeheuers "Leviathan" gab. Die kleinen Ungeheuer des marktwirtschaftlichen Individualismus sollen durch das grosse Ungeheuer des staatlichen "Leviathan" gebändigt werden. Eine feine Art der Gesellschaft, die an Boshaftigkeit nichts zu wünschen übrig lässt!
Der "Leviathan" ist ebensowenig wie die freie Wildbahn des Marktes eine Institution kultureller und sozialer Gemeinsamkeit. Denn der Staat hebt die totale Konkurrenz nicht auf; er ist nur eine repressive und den "fensterlosen" Individuen äussere Gewalt, ein Apparat, der notdürftig gemeinsame Rahmenbedingungen für die tobsüchtigen Subjekte des Marktes herstellt: vergleichbar vielleicht mit dem Schiedsrichter eines Rugby-Spiels. Daran hat sich seit Hobbes nichts geändert. Mehr denn je werden heute die freien Individuen als Wesen unterstellt, die durch den Markt gesellschaftlich unzurechnungsfähig gemacht worden sind und deshalb von den Ungeheuern der Staatsapparate in juristische und bürokratische Zwangsjacken gesteckt werden müssen.
In dieser "besten aller Welten" gibt es leider einen kleinen logischen Schönheitsfehler. Denn wie alle Ungeheuer ist auch Herr "Leviathan" ziemlich gefrässig; und es erhebt sich die Frage, wie er gefüttert werden soll. Die Unzurechnungsfähigkeit der konkurrierenden Individuen besteht ja gerade darin, dass ihnen ihre eigenen gesellschaftlichen und natürlichen Existenzbedingungen egal sind. Das ist das Problem der Staatsökonomie. Denn der Staat ist keineswegs ein "ausserökonomischer Faktor", wie oft angenommen wird; indem er nämlich finanziert werden muss (und weil das Geld zweifellos ein durch und durch "ökonomischer Faktor" ist), bildet er gewissermassen eine sekundäre Ökonomie, die Ökonomie der gemeinsamen Existenzbedingungen von marktwirtschaftlich konkurrierenden Individuen. Per Definition geben die Subjekte im "Naturzustand" der Konkurrenz dafür keinen Pfennig freiwillig her. Das staatliche Ungeheuer muss seine eigenen Kosten (die nichts anderes sind als die gesellschaftlichen "Geschäftskosten" der Marktwirtschaft) ebenso gewaltsam eintreiben, wie es die freien Individuen gewaltsam daran hindern muss, sich gegenseitig mit Haut und Haar aufzufressen.
Zwar sollte es dem grossen Ungeheuer nicht schwerfallen, sich gegen die kleinen Ungeheuer durchzusetzen. Aber leider sind die "Geschäftskosten" der Marktwirtschaft im Laufe der Zeit immer grösser geworden. Je mehr die Menschen zu individuellen Subjekten der Konkurrenz wurden, desto grösser wurde auch der Bedarf an einer juristischen und polizeilichen Regelung ihrer Beziehungen, und desto stärker mussten die Apparate der Justiz und Verwaltung aufgebläht werden. Nicht einmal das byzantinische Reich kann sich messen mit dem bürokratischen Moloch, den die modernen westlichen Demokratien hervorgebracht haben. Das ist aber noch lange nicht alles. Denn je mehr die Konkurrenz zur Verwissenschaftlichung der Produktion und zur Anwendung grosser technischer Aggregate führte, je mehr sie grosse Menschenmassen in städtischen Agglomerationen zusammenballte, desto grösser wurde auch der Bedarf an einer gesellschaftlichen Logistik und Infrastruktur, desto mehr musste der Staat auch materielle, technische und organisatorische Rahmenbedingungen für das muntere marktwirtschaftliche Treiben zur Verfügung stellen: von den Schulen und Hochschulen über den Bau von Strassen und Flughäfen bis zur Kanalisation und Müllabfuhr. Und schliesslich wurden auch die Folgekosten immer höher: Je mehr die Menschen durch die Marktwirtschaft sozial entwurzelt wurden, desto stärker stiegen die sozialen Transaktionskosten des Staates; und je mehr die natürliche Umwelt durch die bornierte betriebswirtschaftliche Rationalität belastet und zerstört wurde, desto höher stiegen die staatlichen Kosten für notdürftige ökologische Reparaturen.
Von all diesen kostenträchtigen Problemen wollte der im späten 18. Jahrhundert aufkommende ignorante Wirtschaftsliberalismus nichts wissen. Der brillante Zyniker Bernard de Mandeville (1670-1733) behauptete in seiner "Bienenfabel", die Summe des rücksichtslosen privaten Gewinnstrebens werde quasi automatisch die Wohlfahrt des Gemeinwesens sichern. Dieser Gedanke ist bis heute das wichtigste Argument zur Rechtfertigung des ökonomischen Liberalismus geblieben. Auch Adam Smith (1723-1790), der Klassiker der politischen Ökonomie, hat sich bekanntlich dieses Argument zu eigen gemacht; seiner Theorie zufolge kann die "invisible hand" des Marktes die gesamte Reproduktion der Gesellschaft viel besser regulieren als der Staat. Dieser ökonomische Liberalismus hat trotzdem der Staatsphilosophie von Hobbes nicht grundsätzlich widersprochen: der "Leviathan" sollte sich zwar jeder sozialen und ökonomischen Tätigkeit enthalten, aber gleichzeitig sollte er durchaus seine Funktion als repressives Ungeheuer erfüllen, d.h. in Form von Justiz, Polizei und Militär die Opfer der Konkurrenz dazu zwingen, sich an die "Gesetze der Marktwirtschaft" anzupassen. Politische Diktatur und ökonomischer Liberalismus konnten daher schon immer grundsätzlich Hand in Hand gehen, was nicht erst ein Pinochet beweisen musste.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts führte die politische Exekution der liberalen Dogmen zu gesellschaftlichen Katastrophen. Es gab immer mehr soziale Aufstände, die Massenkriminalität explodierte und in den industriellen Ballungszentren brachen Seuchen aus. Während der grossen irischen Hungersnot von 1846 bis 1849 liess die britische Regierung im Namen des Freihandels 1,5 Millionen Menschen verhungern und zwang 2,5 Millionen zur Auswanderung nach Amerika. Der doktrinäre Liberalismus drohte die menschliche Gesellschaft vollständig aufzulösen. Gleichzeitig begannen viele Unternehmer selber nach der infrastrukturellen Staatsökonomie zu rufen, weil sie erkannten, dass Schulbildung, Strassen, Informationsnetze usw. für eine weitere Akkumulation des Kapitals notwendig waren.
So kam es allmählich zu einem grossen Paradigmenwechsel. Immer mehr Theoretiker bekannten sich zur Notwendigkeit einer ausgedehnten Staatsökonomie. 1867 stellte der deutsche Finanzökonom Adolph Wagner (1835-1917) das sogenannte "Gesetz der stets wachsenden Staatstätigkeit" auf. Selten hat eine ökonomische Prognose sich derart in der historischen Realität bestätigt wie diese. Das zeigt ein Blick auf die Statistik in drei signifikanten westlichen Ländern:
Es wird also deutlich, dass trotz aller relativen Unterschiede die Staatsquote überall historisch stark gewachsen ist. In den USA stieg sie selbst unter Präsident Reagan noch um 0,3 Prozent an. Seit langem kann diese hohe Staatsquote bekanntlich nur noch durch eine gefährlich wachsende Staatsverschuldung aufrechterhalten werden. Deswegen hat auch der ökonomische Liberalismus einen neuen Frühling erlebt, obwohl seine Doktrin eigentlich schon im 19. Jahrhundert gescheitert ist. Die Neoliberalen wiederholen die uralten Ideen von Mandeville und Smith. Sie behaupten, dass die Prognose von Wagner kein ökonomisches Gesetz darstellt, sondern nur durch politische Willkür verifiziert worden sei. Deshalb halten sie eine historische Trendumkehr für möglich. Der fett gewordene "Leviathan" soll auf Diät gesetzt und seine Funktionen sollen grösstenteils "privatisiert" werden. Fast 130 Jahre nach der Prognose von Wagner haben kürzlich die beiden IWF-Ökonomen Vito Tanzi und Ludger Schuknecht eine Gegenprognose aufgestellt: von jetzt an werde die Staatsquote in einem gegenläufigen historischen Prozess wieder sinken, und zwar auf unter 30 Prozent.
Um das Problem zu klären, müssen wir die Frage nach dem Charakter der ökonomischen Staatsfunktionen stellen. Wie alle Vertreter des ökonomischen Liberalismus verwechseln Tanzi und Schuknecht die private Produktion von Waren für den Markt mit den gesamtgesellschaftlichen Existenzbedingungen des Marktes selber. Der Liberalismus bildet sich ein, dass die meisten Aufgaben des Staates ebenso durch private, profitorientierte Unternehmen zu leisten sind wie die Produktion von Autos oder von Hamburgern. Als erstes sollen natürlich die sozialen Risiken des Kapitalismus "privatisiert" werden, d.h. der Staat soll sich aus der in den letzten 100 Jahren gewachsenen sozialen Verantwortung wieder auf seine Funktionen als repressives Ungeheuer zurückziehen. Die Geschichte hat aber bereits bewiesen, dass die meisten Menschen mangels ausreichender Einkommen das soziale Risiko nicht individuell tragen können und in ausweglose Lagen getrieben werden. Der Liberalismus ist bekannt dafür, dass er die Kosten für Gefängnisse und Todesschwadronen mehr liebt als die Kosten sozialer Hilfe für die Armen, selbst wenn die Kosten der Repression auf die Dauer grösser sind und den "Leviathan" noch mehr mästen. Damit beweist die liberale Doktrin ihren bösartigen Irrationalismus und führt ihre eigenen Kriterien ad absurdum.
Noch deutlicher wird die Absurdität der "Privatisierung" bei anderen Funktionen des Staates. So ist es zum Beispiel unmöglich, ökologische Massnahmen für den Schutz der Umwelt als marktwirtschaftliche Transaktion zwischen Privaten zu organisieren, denn der Konsum der verbesserten Umwelt kann nicht für eine zahlungskräftige Nachfrage isoliert werden. Es ist unmöglich, die Luft und das Klima nur für die Stadtviertel der Reichen zu stabilisieren. Die Umwelt wird entweder für die ganze Gesellschaft verbessert oder für die ganze Gesellschaft ruiniert, ganz unabhängig von der Kaufkraft der Individuen. Deshalb kann der Schutz der Umwelt immer nur als Nachfrage und Konsum des Staates erscheinen. Auch die Kanalisation, die Müllabfuhr oder die Wasserversorgung lassen sich nur schwer für eine private Nachfrage isolieren. Und selbst das Gesundheitswesen und die Schulen können nicht ohne negative Rückwirkungen auf die Gesellschaft "privatisiert" werden, was in der Folge wieder zu neuen sozialen Kosten führt.
Selbst wenn also die Funktionen des Staates durch private Unternehmen erfüllt werden, ist es eine Illusion, diese Funktionen in den Markt auflösen zu wollen. Denn auch dann erscheinen diese Aufgaben als staatliche Kosten, weil sie grösstenteils vom Staat nachgefragt und konsumiert werden müssen. Als zum Beispiel in Mexiko eine neue "Sonnenstrasse" für den Fernverkehr von privaten Investoren nicht nur gebaut, sondern auch nach Kriterien des Profits privat betrieben werden sollte, gab es ein grosses Fiasko: die grossen Transportfirmen und die privaten Autofahrer konnten die teuren Gebühren nicht bezahlen, und der Verkehr rollte weiterhin über die hoffnungslos überlasteten, aber gebührenfreien staatlichen Strassen. Wie man es auch dreht und wendet: die Voraussetzungen, Bedingungen und Folgen der Marktwirtschaft sind etwas qualitativ anderes als die Marktwirtschaft selbst. Es handelt sich um gesamtgesellschaftliche Probleme, die nicht privat gelöst werden können. In einer Gesellschaft konkurrierender Individuen kann nur der staatliche "Leviathan" diese Aufgaben übernehmen. Das gilt übrigens auch für die staatlichen Subventionen, deren drastische Reduzierung die weltweite Krise ebenso drastisch verschärfen würde, weil grosse Teile von Industrie und Landwirtschaft in fast allen Ländern ohne diese Subventionen ruiniert wären.
Man kann das Verhältnis von Markt und Staat im Prozess der Modernisierung auf die Formel eines allgemeinen Gesetzes bringen: Je mehr Markt, desto mehr Staat. Die Beziehung der blind konkurrierenden "fensterlosen Monaden" und des Ungeheuers "Leviathan" ist diejenige von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Deswegen ist die Doktrin des ökonomischen Liberalismus ebenso falsch wie die Prognose der IWF-Ökonomen Tanzi und Schuknecht. Der aufgeblähte Markt und der aufgeblähte Staat können nur gemeinsam leben oder sterben.
http://www.exit-online.org
20.12.2002

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