Je mehr der Kapitalismus seine Rationalität beschwört, desto irrationaler scheint er zu werden. So hat die Überlebenskonkurrenz auf den Märkten zu einer betriebswirtschaftlichen Kostensenkungspolitik um jeden Preis geführt. Immer weniger Personal soll immer mehr Aufgaben bewältigen. Löhne sollen sinken, Pausen am besten gar nicht mehr vorkommen. Geiz ist geil, was die Arbeitsbedingungen angeht. In der Krise wurde dieser Einsparungswahn weiter forciert, sogar zu Lasten der Qualitätskontrolle. Rückrufaktionen, Pannen, Störungen und Skandale häufen sich. Die Radikalisierung der Betriebswirtschaft schlägt gegen die Betriebswirtschaft selbst zurück. Das liegt einfach daran, dass der kapitalistische Begriff der „Effizienz“ völlig leer ist. Er bezieht sich nicht auf die konkreten Inhalte der Produktion, sondern allein auf die abstrakte Profitmaximierung, die offenbar endgültig in das Stadium ihrer historischen Inkompetenz eingetreten ist.
Gerade deswegen hat sich der betriebswirtschaftliche Sparwahn bis in das Alltagsleben ausgedehnt. Nicht nur Schulen, wissenschaftliche Institute, Theater oder Kinderläden sollen wie Unternehmen geführt und nach Gesichtspunkten der Kostensenkung ausgerichtet werden, sondern auch persönliche Beziehungen. Sogar der einzelne Mensch gilt als Betriebswirtschaft auf zwei Beinen und wird in Tests (z.B. der Arbeitsverwaltung) auf die zweckfreien „Rationalisierungspotentiale“ seiner Lebensführung hingewiesen. Die satirische Parole „Schlaf schneller, Genosse“ erscheint als tierischer Ernst des Krisenkapitalismus; der allgemeine Druck einer inhaltslosen „Steigerung der Effizienz“ hat die Dimension einer gesellschaftlichen Zwangsneurose angenommen.
Allerdings zeigt der Imperialismus der Ökonomie zwei Gesichter. Während einerseits ein pfennigfuchserischer Geiz des abstrakten Zeitregiments waltet und in den Betrieben sogar der Gang zur Toilette überwacht wird, macht sich andererseits eine geradezu feudale Vergeudungskultur geltend. Dem betriebswirtschaftlichen Sparwahn entspricht ein betriebswirtschaftlicher Größenwahn, der im Filz mit der Politik seine Blüten treibt. Ein Paradebeispiel bietet derzeit die Deutsche Bahn mit dem absurden Prestigeprojekt Stuttgart 21. Die veranschlagten Kosten sind nach unabhängigen Gutachten von 4 über 7 auf mittlerweile 12 Milliarden Euro gestiegen. Für die Gleise im Nah- und Güterverkehr gibt es kein Geld, aber für den ICE-Metropolenverkehr, der mit dem Flugzeug konkurrieren soll, darf geklotzt werden. Dieser Pyramidenbau schlägt vermutlich ebenfalls auf seine Urheber zurück, denn Investitionsruinen als Folge sind absehbar.
Das ruinöse ökonomische Prestigedenken hat sich ebenso in alle gesellschaftlichen Bereiche ausgedehnt wie die geizige Sparwut. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Kommunen, die ihr Verwaltungs- und Verkehrspersonal ausdünnen, gieren nach Groß-Events (siehe Duisburg und das Desaster der Loveparade); andere wollen Länderspiel-Stadien aus dem Boden stampfen, obwohl sie gleichzeitig fast schon das Klopapier rationieren. Und dieselben „Unternehmer ihrer Arbeitskraft“, die sich zu Narren der Leistungshetze, Rundum-Überwachung und sinnloser Rationalisierungsprogramme ihrer Lebenszeit machen lassen, stürzen sich für erst recht neurotischen Prestige-Konsum in Schulden, deren Bedienung sie sich dann vom Mund absparen. Es ist kein Zeichen von Stabilität, wenn eine Gesellschaft zwischen extrem gegensätzlichen Verhaltensweisen schwankt. Wer sich zu Tode rationalisiert, muss sich im Gegenzug zur Überlebensgröße aufplustern. Entfremdete Totalverausgabung ist beides; aber vornehm geht nun mal die Welt zugrunde.
Robert Kurz
Erschienen im Neuen Deutschland am 17.09.2010
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