DIE "KINDERKRANKHEIT" UND DIE DRITTE INTERNATIONALE
(Franz Pfemfert - 7. August 1920)
I
Die Dritte Internationale soll sein: die Vereinigung des revolutionären Proletariats aller Länder, das gegen die Diktatur des Kapitalismus kämpft, gegen den bürgerlichen Staat, für die Herrschaft der arbeitenden Menschheit, für den Kommunismus. Daß sie in einem Lande geboren worden ist, in dem die Arbeiter sich diese Herrschaft bereits erkämpft haben, das hat der Dritten Internationale geholfen, sich die Sympathien des Weltproletariats zu erringen. Die Begeisterung für den neuen Weltbund der Ausgebeuteten ist identisch mit der Begeisterung für Sowjetrußland, für den unvergleichlichen Heldenkampf des russischen Proletariats. Das junge Gebilde Dritte Internationale allein hat noch nicht Zeit und Gelegenheit gehabt, sich als Organisation moralische Wirkungen zu verschaffen.
Die Dritte Internationale kann und wird eine moralische Kraft sein, wenn sie denWillensausdruck des revolutionären Weltproletariats darstellen wird, sie wird unzerstörbar und unersetzbar sein als Internationale der kämpfenden proletarischen Klasse. Die Dritte Internationale aber wäre unmöglich und hohle Phrase, wollte sie das Propagandainstrument einer einzelnen Partei sein oder einzelner Parteien.
Ist die Dritte Internationale der Bund des revolutionären Weltproletariats, dann wird sich dieses Proletariat eins fühlen mit ihr, ganz gleich, ob es schon formell angeschlossen ist oder nicht. Tritt die Dritte Internationale jedoch auf mit der Vollmacht der Zentralgewalt eines Landes, dann trägt sie den Todeskeim in sich und wird die Weltrevolution hemmen.
Die Revolution ist die Angelegenheit des Proletariats als Klasse; die soziale Revolution ist keine Parteisache!
Ich muß noch deutlicher werden:
Sowjetrußland geht zugrunde ohne die aktive Hilfe aller revolutionären Kämpfer. Alle wirklich klassenbewußten Arbeiter (hierzu gehören z. B. unbedingt auch die Syndikalisten!) sind bereit, aktiv zu helfen. Die Dritte Internationale würde verbrecherisch, gegenrevolutionär wirken, wollte sie - im Interesse einer Partei! - etwas tun, was geeignet wäre, das heilige Feuer brüderlicher Solidarität, das für Sowjetrußland (noch immer nicht: für die Dritte Internationale als Organisation an sich!!) in den Herzen aller Proletarier glüht, zu löschen!
Ist das denn so schwer zu begreifen? Ist es eine Dummheit,
Genosse Lenin, wenn ich Ihnen zurufe: nicht wir brauchen im Augenblick die Internationale, sondern die Dritte Internationale braucht uns?
II
Lenin ist heute der Meinung, es sei eine Dummheit. In der Schrift: "Der 'Radikalismus' - die Kinderkrankheit des Kommunismus", die er soeben dem revolutionären Proletariat entgegenschleuderte, geht Lenin von der Ansicht aus, die Dritte Internationale habe sich an das Parteistatut der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) zu halten und das revolutionäre Proletariat aller Länder habe untertan zu sein der Obrigkeit "Dritte Internationale" und somit der Taktik der Bolschewiki. Die Bolschewiki hätten darüber zu entscheiden, welche Waffen das kämpfende Proletariat der übrigen Welt zu benutzen habe. Und nur die unbedingt gehorchenden Proletarier seien auserwählt, dem Weltbund anzugehören. In den Leitsätzen zum Il. Kongreß der Dritten Internationale hat Lenin das noch eindeutiger formuliert: er hat nicht bloß Richtlinien allgemeiner Art gegeben, sondern alle Einzelheiten der Taktik, der Organisation und sogar - den Namen vorgeschrieben, den die Parteien in allen Ländern führen müßten. Und als Gipfel:
"Alle Beschlüsse der Kongresse der Kommunistischen Internationale, wie auch die Beschlüsse ihres Exekutivkomitees sind für alle der Kommunistischen Internationale angehörigen Parteien bindend."
Ist das auch Methode, so ist es dennoch Wahnsinn!
In einem so kleinen Lande wie Deutschland haben wir es wiederholt, zuletzt im März 1920, erlebt, daß eine Taktik, die z. B. für das Ruhrgebiet Siege brachte, in anderen Gebieten unmöglich war; daß der Generalstreik der Industriearbeiter in Mitteldeutschland für das Vogtland, wo seit November 1918 das Proletariat feiern muß, ein Witz blieb. Und Moskau soll uns und allen anderen Ländern Generalstab sein?
Was uns zur Dritten Internationale führt, ist das gemeinsame Ziel der Weltrevolution: die Diktatur des Proletariats, der Kommunismus. Die Dritte Internationale soll den kämpfenden Proletariern aller Länder dadurch zur Seite stehen, daß sie ihnen die verschiedenen Situationen und Arten des revolutionären Bürgerkriegs zeigt. Die Kämpfer müßten Esel sein und nicht Kämpfer, wollten sie es unterlassen, die Waffen zu untersuchen, mit denen die Brüder da und dort kämpfen. Aber die Kämpfer wären Schafe, wollten sie sich auf Wege drängen lassen, die sie längst als für sie unbenutzbar erkannt und deshalb verlassen haben.
Lenins Angriff auf uns ist in der Tendenz und in den Einzelheiten einfach ungeheuerlich. Oberflächlich ist die Schrift. Unsachlich. Ungerecht. Massiv nur in den Ausdrücken. Von der Schärfe des Denkers Lenin, die sich sonst besonders in Polemiken zeigt, keine Spur.
Was will Lenin? Der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands und dem revolutionären Proletariat aller anderen Länder sagen, daß sie Dummköpfe, Idioten und Schlimmeres seien, da sie sich nicht willig den Bonzenweisheiten beugen, da sie sich nicht stramm zentralistisch von Moskau herab (über Radek und Levi) gängeln lassen. Wenn Deutschlands revolutionäre Avantgarde sich gegen die Teilnahme an bürgerlichen Parlamenten wendet, wenn diese Avantgarde die reaktionären Gewerkschaftsverbände zu zertrümmern beginnt, wenn sie den politischen Führerpartelen den Rücken kehrt gemäß dem Wort: die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der Arbeiter sein, dann besteht diese Avantgarde aus Dummköpfen, dann verübt sie "radikale Kindereien", dann wird sie (und das ist das Ergebnis der Broschüre) eben nicht - in die Dritte Internationale hinein dürfen! Nur falls die Arbeiter der KAPD als reuige Sünder in den alleinseligmachenden Spartakusbund zurückkehren, können sie zur Dritten Internationale kommen. Also: Zurück zum Parlamentarismus! Hinein in Legiens Gewerkschaften! Hinein in die sterbende Führerpartei KPD! - das ruft Lenin dem selbstbewußten deutschen Proletarier zu!
Ich sagte schon: ein ungeheuerliches Buch! Damit ist auch die Belanglosigkeit der Argumente gemeint, die Lenin aus dem Staub der achtziger Jahre hervorholt, um den deutschen Radikalen die Überzeugung beizubringen, daß er die Gänsefüßchen mit Recht gegen sie anwendet. Auf dem Niveau der USP bewegen sich alle Ausführungen in Sachen des Zentralismus und des Parlamentarismus. Und was Lenin zugunsten der Arbeit in den Gewerkschaften schreibt, das ist so famos opportunistisch, daß die Gewerkschaftsbonzen nichts Eiligeres zu tun wußten, als es sofort in Flugblättern nachzudrucken und zu verbreiten!
Skandalös flach, sträflich loddrig ist die Polemik, die Lenin gegen die KAPD führt. An einer Stelle heißt es zum Beispiel:
"Die deutschen Radikalen haben, wie bekannt, schon im Januar 1919 den Parlamentarismus für politisch überwunden gehalten, im Gegensatz zur Meinung hervorragender politischer Führer wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Es ist klar, daß die 'Radikalen' geirrt haben. Schon dies allein stößt die These bis auf den Grund um, daß der Parlamentarismus sich 'politisch' überlebt habe."
Das schreibt der Logiker Lenin! Wodurch, bitte, ist "klar" geworden, daß wir geirrt haben? Etwa durch die Tatsache, daß die Nationalversammlung neben den Crispienleuten nicht auch Levi und Zetkin zeigte? Etwa durch den Reichstag, in dem jetzt dieses kommunistische Duett sitzt? Wie kann Lenin -leichtfertig, ohne den Schatten von Beweis anzuführen, niederschreiben, unser "Irrtum" sei klar, und daran die Forderung knüpfen: "Schon dies allein stößt die These usw."? Ungeheuerlich! Ungeheuerlich auch, wie Lenin die Frage: "Muß man sich an den bürgerlichen Parlamenten beteiligen? bejaht:
"Kritik - und zwar die schärfste, schonungsloseste, unversöhnlichste Kritik - muß nicht am Parlamentarismus oder an der parlamentarischen Tätigkeit, sondern an den Führern geübt werden, die Parlamentswahlen und Parlamentstribüne nicht auf revolutionäre kommunistische Art auszunutzen verstehen und mehr noch an denjenigen, die sie nicht ausnutzen wollen."
Das schreibt Lenin! Lenin will plötzlich die "Ausnutzung der Demokratie", die er selbst (in "Staat und Revolution", in "Renegat Kautsky", in "Bürgerliche Demokratie und proletarische Diktatur") als "Renegatenforderung" abgetan hat!
Das revolutionäre Proletariat Deutschlands hat sich vom "käuflichen und versumpften Parlamentarismus der bürgerlichen Gesellschaft" abgewandt, vom "System der Täuschung und des Betrugs". Das Proletariat hat die Kampfparole. "Alle Macht den Räten!" voll erkannt. Es hat einsehen müssen, daß der bürgerliche Parlamentarismus nicht "auszunutzen" ist. Es hat die Gewerkschaften als Institutionen erkannt, die eine Arbeitsgemeinschaft zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten herbeiführen müssen und damit den Klassenkampf sabotieren, ganz gleichgültig, ob die Mitglieder dagegen kritisieren oder nicht. Das revolutionäre Proletariat Deutschlands hat mit Gebirgen von Arbeiterleichen büßen müssen, daß es sich dem Führertum ausgeliefert hatte. Die letzte Illusion vernichtete die berüchtigte "Zentrale" des Spartakusbundes. Davon hat das Proletariat für alle Zeit genug!
Und jetzt kommt Lenin daher und sucht die bitteren Lehren der deutschen Revolution und seine eigenen Lehren vergessen zu machen? Sucht vergessen zu machen, daß Marx gelehrt hat, nicht Personen seien verantwortlich? Der Parlamentarismus und nicht das Einzelgeschöpf Parlamentarier ist zu bekämpfen!
Wir haben ja eben Monate hinter uns, wo "Kommunisten" im Reichstage wirkten. Man lese die Parlamentsberichte aus den Tagen, da Levi-Zetkin "auf revolutionäre kommunistische Art" (übrigens eine sinnlose Zeitungsphrase!) die Tribüne "ausnutzten"! Sie haben die Berichte gelesen, Genosse Lenin. Wo bleibt ihre "schärfste, schonungsloseste, unversöhnlichste Kritik"? Oder sind Sie befriedigt worden? ...
Es ist leicht nachzuweisen; die KAPD hat den "Wahlkampf" im Sinne revolutionärer Agitation wirksamer ausgenutzt und wirksamer ausnutzen können als die Parlamentskommunisten, eben weil sie keine "Kandidaten" hatte, die Stimmvieh suchten. Die KAPD hat den parlamentarischen Schwindel entlarvt und bis in die entlegensten Dörfer hinein die Räteideen getragen. Die Mandatsjäger aber haben in den paar Monaten ihrer Tätigkeit im Parlament bestätigt, daß wir Antiparlamentarier recht haben.
Ist Ihnen, Genosse Lenin, nie der Leninsche Gedanke in die Quere gekommen, daß es in einem Lande mit vierzigjähriger Parlamentsfaxerei der Sozialdemokratie (die ja anfangs die Tribüne auch nur propagandistisch "ausnutzen" wollte!) eine stockreaktionäre Handlung ist, ins Parlament zu gehen? Ist Ihnen nicht begreiflich, daß ein Land des parlamentarischen Kretinismus den Parlamentarismus nur durch Boykott brandmarken kann? Es gibt keine schärfere Brandmarkung, keine, die tiefer ins Bewußtsein der Arbeiter dringt! Ein von Proletariern durch Boykott demaskiertes Parlament wird Proletarier nie täuschen und betrügen können. Aber eine korrekte "programmatische" Rede, die Clara Zetkin unter dem Beifall bürgerlicher und sozialdemokratischer Blätter hält und aus der die Presse das wiedergibt, was der Presse zusagt, eine solche Rede schafft dem bürgerlichen Parlament Beachtung im Proletariat! - Wären die USP-Herrschaften nicht in die Nationalversammlung gegangen, die Selbstbewußtseinsentwicklung der deutschen Proletarier wäre heute schon weiter vorgeschritten!
III
Lenin ist für "straffste Zentralisation" und für "eiserne Disziplin". Er will, daß die Dritte Internationale dies proklamiere und alles fernhalte, was, wie die KAPD, der Führerallmacht kritisch gegenübersteht.
Militärische Parteiherrschaft wünscht Lenin in allen Ländern.
Ein wenig anders lauteten die Richtlinien des ersten Kongresses der Dritten Internationale! In diesen Richtlinien wird gegen die Unabhängigen, als gegen nicht absolut zuverlässige Kämpfer empfohlen:
"die Taktik des Absplitterns der revolutionären Elemente, erbarmungslose Kritik und Entlarvung der Führer."
Und im übrigen wird gesagt:
"Auf der anderen Seite ist ein Block mit den Elementen der revolutionären Arbeiterbewegung notwendig, die, obgleich sie früher der sozialistischen Partei nicht angehörten, jetzt im großen und ganzen auf dem Standpunkt der proletarischen Diktatur in der Form der Rätemacht stehen. Solche sind an erster Stelle die syndikalistischen Elemente der Arbeiterbewegung. " ,
Davon ist nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: Nieder die Syndikalisten! Nieder die gegen Bonzen unbotmäßigen "Dummköpfe"! Das Exekutivkomitee befehle, und seine Befehle seien bindend!
Lenin hat Karl Liebknecht gegen die "Radikalen" zitieren können geglaubt. Ich zitiere Karl Liebknecht gegen Lenin:
"Das ist der verhängnisvolle Zirkel, in dem sich die großen zentralisierten, mit fest besoldeten und von ihrem bisherigen Klassenniveau aus gut besoldeten Funktionären versehenen Organisationen bewegen, daß sie in dieser Berufsbürokratie eine den revolutionären Interessen des Proletariats geradewegs feindliche Schicht nicht nur erzeugen, sondern zu ihrem bevollmächtigten Führer und gar leicht Tyrannen machen, die ein energisches Interesse gegen eine revolutionäre Politik des Proletariats haben, während die geistige und moralische Selbständigkeit, der Wille, die Initiative, die Eigenaktion der Massen zurückgedrängt oder ganz ausgeschaltet wird. Zu dieser Bürokratie rechnen auch die besoldeten Parlamentarier.Ein Übel, gegen das organisatorisch schon ein Kraut gewachsen ist: Beseitigung der besoldeten Bürokratie, oder ihre Ausschaltung von allen Beschlüssen, ihre Einschränkung auf technische Hilfsarbeit, Verbot der Wiederwahl aller Funktionäre nach bestimmter Dauer, wodurch zugleich die Zahl der organisationstechnisch bewanderten Proletarier vermehrt wird; jederzeitige initiative Absetzungsmöglichkeit während der Amtsdauer; Beschränkung der Zuständigkeit der Instanzen; Dezentralisation; Urabstimmung für wichtige Fragen (Veto und Initiative). Bei der Wahl der Funktionäre muß das entscheidende Gewicht auf ihre Erprobung im entschlossenen schlagfertigen, revolutionären Handeln, im revolutionären Kampfgeist, in rücksichtsloser Opferwilligkeit unter bereitwilliger Einsetzung der ganzen Existenz gelegt werden. Die Erziehung der Massen und jedes einzelnen zur geistigen und moralischen Selbständigkeit, zur Autoritäts-Ungläubigkeit, zur entschlossenen Eigen-Initiative, zur freien Aktionsbereitschaft und -fähigkeit, bildet wie die einzige sichernde Grundlage für die Entwicklung einer ihren historische.. Aufgaben gewachsenen Arbeiterbewegung überhaupt, so die wesentliche Voraussetzung für die Austilgung der bürokratischen Gefahren.Jede Organisationsform, die die Schulung im internationalen revolutionären Geist und die selbständige Aktionsfähigkeit und Initiative der revolutionären Massen hemmt, ist zu verwerfen ... Keine Verbindung, die der freien Initiative Fesseln anlegt. Diese Initiative in den Massen zu fördern, ist gerade in Deutschland, dem Land des passiven Massen-Kadavergehorsams, die dringendste Erziehungsaufgabe, die gelöst werden muß, selbst auf die Gefahr hin, daß vorübergehend alle 'Disziplin' und alle 'strammen Organisationen' zum Teufel gehen (!). Dem Individuellen ist weit größerer Spielraum zu geben, als in Deutschland bisher Tradition. Auf das Wortbekenntnis ist geringstes Gewicht zu legen . . . Alle abgesplitterten radikalen Elemente werden zu einem nach den immanenten Gesetzen des Internationalismus bestimmten Ganzen zusammenschießen, wenn Intransigenz gegen allen Opportunismus, Weitherzigkeit gegen alle Bemühungen eines gärenden revolutionären Kampfgeistes geübt wird."
IV
Ich weiß, Lenin ist kein "Renegat" und nicht Sozialdemokrat geworden, wenn auch die "Kinderkrankheit" rein sozialdemokratisch wirkt (1878 haben die deutschen Führer fast wörtlich so gesprochen). Aber wie ist das Zustandekommen seiner Schrift gegen die Weltrevolution zu erklären ?
Monarchisten pflegen für Dummheiten (und Verbrechen) ihrer Monarchen stets als Entschuldigung anzuführen, die Majestäten seien "schlecht unterrichtet" worden. Revolutionäre können (und dürfen) für ihre Genossen solche Entschuldigung nicht gelten lassen. Gewiß wissen wir genau, daß Karl Radek und der Spartakusbund, um von den Ursachen ihres politischen Bankrotts abzulenken, Lenin bewußt die Unwahrheit berichtet haben über die Situation und über das revolutionäre Proletariat in Deutschland. Karl Radeks freches Schreiben an die Mitglieder der KAPD zeigt, wie die Dinge dem Genossen Lenin dargestellt worden sind. Doch das rechtfertigt Lenin keinesfalls! Eine Rechtfertigung ist überhaupt zwecklos, denn die Tatsache, daß Lenin dem revolutionären Proletariat Deutschlands den Kampf erschwert hat mit der dummen Broschüre, wird damit noch nicht beseitigt.
Und Lenin ist zwar in Sachen des Spartakusbundes und der KAPD wüst angelogen worden, aber er hätte doch sehr wohl sich sagen müssen, daß es Unfug ist, deutsche Verhältnisse mit russischen Verhältnissen zu identifizieren. Lenin ist sehr wohl in der Lage gewesen, trotz Radek, zu unterscheiden zwischen deutschen Gewerkschaften, die stets ein gegenrevolutionäres Dasein geführt haben, und den russischen Gewerkschaften. Lenin weiß sehr wohl, daß die russischen Revolutionäre nicht gegen parlamentarischen Kretinismus zu kämpfen hatten, da das Parlament in Rußland weder Tradition noch Ansehen im Prole: tariat besaß. Lenin weiß (oder müßte es wissen), daß in Deutschland das Führertum in Partei und Gewerkschaften durch "Ausnutzung" des Parlaments zum 4. August 1914 kommen mußte! Daß der autoritative militärische Charakter der Partei mit dem Kadavergehorsam Jahrzehnte hindurch die revolutionären Kräfte in der Arbeiterbewegung Deutschlands geknebelt hat. Das alles hätte Lenin sich überlegen müssen, bevor er gegen die "Radikalen" zu kämpfen begann. Das Verantwortlichkeitsgefühl hätte Lenin dann gehindert, die unverzeihliche Schmähschrift zu schreiben.
V
Um das Weltproletariat davon zu überzeugen, daß er in der "Kinderkrankheit" den richtigen Weg zur Revolution für alle Länder freilegt, führt Lenin ihm den Weg vor Augen, den die Bolschewiki gegangen sind und der zum Siege geführt habe, weil er der rechte Weg war (und ist).
Lenin befindet sich auch hier auf völlig unhaltbarem Posten. Wenn er den Sieg der Bolschewiki als Beweisargument erwähnt dafür, daß seine Partei in den fünfzehn Jahren ihrer Existenz "richtig" gearbeitet habe, dann ist das irreführend! Der Sieg der Bolschewiki im November 1917 ist kein Sieg der revolutionären Kraft der Partei allein gewesen! Die Bolschewiki sind mittels der bürgerlich-pazifistischen Parole: "Friede!" zur Macht, zum Sieg gekommen! Diese Parole allein hat die Nationalmenschewiki niedergezwungen, hat den Bolschewiken die Armee gesichert!
Also nicht der Sieg an sich kann uns überzeugen, daß die Bolschewiki im Sinne der Prinzipienfestigkeit "richtig" gearbeitet haben. Eher schon die Tatsache, daß sie nun beinah drei Jahre lang diesen Sieg zu verteidigen wissen!
Aber - und das ist eine Frage der "Radikalen" - haben die Bolschewiki in diesen Jahren ihrer Parteidiktatur immer so manövriert, wie Lenin in der "Kinderkrankheit" es vom revolutionären Proletariat Deutschlands fordert? Oder ist die Lage der Bolschewiki derart, daß sie Lenins "Bedingung" nicht zu beachten brauchen, die von der revolutionären Partei verlangt:
"daß sie es versteht, sich, mit der breiten Masse der Werktätigen, in erster Linie mit der proletarischen, aber auch mit der nichtproletarischen werktätigen Masse zu verbinden, zu vereinigen, und wenn man will, bis zu einem gewissen Grade zu verschmelzen." ("Kinderkrankheit", Seite 6)
Die Bolschewiki haben bisher nur eins durchführen können und durchgeführt: die militärisch-straffe Parteidisziplin, die "eiserne" Diktatur des Partei-Zentralismus. Oder haben sie es verstanden, sich "zu verbinden, zu vereinigen, und wenn man will, bis zu einem gewissen Grade zu verschmelzen" mit der von Lenin genannten "breiten Masse"? ...
VI
Es ist eine lokale Angelegenheit der russischen Genossen, welche Taktik sie anwenden. Wir haben dagegen protestiert und ihn als Gegenrevolutionär bezeichnen müssen, als Herr Kautsky sich erlaubte, die Taktik der Bolschewiki zu infamieren. Wir haben es den russischen Brüdern zu überlassen, sich ihre Waffen auszuwählen. Aber das eine wissen wir: in Deutschland ist eine Parteidiktatur unmöglich, in Deutschland kann (und wird!) nur die Klassendiktatur, die Diktatur der revolutionären Arbeiterräte siegen und (das Wichtigste) den Sieg verteidigen können.
Ich könnte nun, nach Lenins "Kinderkrankheits"-Rezept, niederschreiben: "Das ist klar" und dann vom Thema abschwenken. Wir haben jedoch nicht nötig, auszuweichen.
Deutschlands Proletariat ist in verschiedenen politischen Parteien organisiert, die Führerparteien mit scharf autoritativem Charakter sind. Die reaktionären Gewerkschaften, durch die streng zentralistische Art ihres Aufbaus der Gewerkschaftsbürokratie ausgeliefert, sind für "Demokratie", für den Wiederaufbau der kapitalistischen Welt, ohne die sie nicht leben können. Parteidiktatur in diesem Deutschland heißt: Arbeiter gegen Arbeiter. (Die Noskeepoche begann als SPD-Parteidiktatur!) Eine Parteidiktatur der KPD (Spartakusbund) (und eine andere hat Lenin nicht im Auge!) müßte sich durchsetzen gegen USP-Arbeiter, SPD-Arbeiter, Gewerkschaften, Syndikalisten, Betriebsorganisation und gegen die Bourgeoisie. Solche Parteidiktatur hat Karl Liebknecht mit dem Spartakusbund nie angestrebt, wie seine ganze Revolutionsarbeit bewies (und wie die Ausführungen zeigen, die ich in diesem Aufsatz zitiert habe).
Es ist unbestreitbar, daß alle Arbeiter (auch die von Legien und Scheidemann genasführten Arbeiter!) die Träger der kommunistischen Neuordnung sein müssen, soll nicht Selbstzerfleischung die Niederhaltung der Bourgeoisie unmöglich machen. Wollen wir auf den jüngsten Tag warten, bis alle oder auch nur ein paar Millionen Proletarier in der KPD vereinigt sein werden (die heute nur noch aus einem kleinen Häuflein von Angestellten und ein paar Gutgläubigen besteht)? Will etwa (wie Karl Radek und Herr Levi es sich ausgeklügelt haben) die Dritte Internationale das Pressionsmittel sein, das die revolutionären Arbeiter in die KPD hineinzwingen soll? Wird der Führeregoismus die Tatsache ignorieren dürfen, daß schon heute die Mehrzahl der Industriearbeiter und des Landproletariats für eine Klassendiktatur reif und zu gewinnen sind?
Wir brauchten eine Parole für die Zusammenfassung des deutschen Proletariats. Wir haben sie: "Alle Macht den Arbeiterräten!" Wir brauchen einen Sammelplatz, auf dem sich alle klassenbewußten Arbeiter vereinigen können, ohne durch Parteibonzen gestört zu werden. Wir haben den Platz: es ist der Betrieb. Der Betrieb, die Keimzelle der neuen Gemeinschaft, er ist auch der Boden der Sammlung. Wir brauchen für die siegreiche Durchführung der proletarischen Revolution in Deutschland nicht Bonzen, sondern selbstbewußte Proletarier. Ob sich die nun Syndikalisten oder Unabhängige nennen: haben sie mit uns das Ziel gemein: den kapitalistischen Staat zu zertrümmern und die kommunistische Menschengemeinschaft zu verwirklichen, dann gehören sie zu uns, dann werden wir uns mit ihnen in den revolutionären Betriebsorganisationen "verbinden, vereinigen, verschmelzen"!
Die Kommunistische Arbeiterpartei ist deshalb keine Partei im üblen Sinne, weil sie nicht Selbstzweck ist! Sie propagiert die Diktatur des Proletariats, den Kommunismus. Sie formiert die Kämpfer in den Betriebsorganisationen, in denen die Kräfte aufgespeichert sind, die die kapitalistische Gesellschaft beseitigen, die Herrschaft der Räte errichten und den Aufbau der neuen kommunistischen Wirtschaft ermöglichen werden. Die Betriebsorganisationen sind in der Union zusammengeschlossen. Die Betriebsorganisationen werden die Herrschaft des Proletariats als Klasse gegen alle Führermachinationen, gegen alle Verräter zu sichern wissen. Nur eine Klassenherrschaft (das zeigte der Kapitalismus!) gibt ein breites, festes Fundament.
VII
Die Kommunistische Arbeiterpartei Deutschlands hat die "Kinderkrankheit" Lenins und den Fluch Radeks und die Verleumdungen des Spartakusbundes und aller Führerparteien erleben müssen, weil sie für die Klassenherrschaft des Proletariats kämpft, weil sie Karl Liebknechts Auffassungen über Zentralismus teilt. Die KAPD wird die "Kinderkrankheit" gut überleben und alles andere. Und ob es nun Karl Radek einsieht oder nicht, ob Lenin eine Broschüre gegen uns (und gegen sich) schraubt oder nicht. die proletarische Revolution wird in Deutschland andere Wege gehen als in Rußland. Wenn Lenin uns "Dummköpfe" nennt, dann kompromittiert er sich und nicht uns. Denn in diesem Falle sind wir - die Leninisten. Wir wissen: mögen nationale oder internationale Kongresse noch so spezialisierte Reiserouten ihr vorschreiben, die Weltrevolution wird in jedem Lande den Gang gehen, den die Geschichte bestimmt! Mag der II. Kongreß der Dritten Internationale versuchen, der KAPD zugunsten einer Führerpartei das Verdammungsurteil zu sprechen: die revolutionären Kommunisten Deutschlands werden das leicht zu tragen wissen und nicht, wie die USP-Bonzen, flennen. Wir gehören zur Dritten Internationale, denn die Dritte Internationale ist nicht Moskau, nicht Lenin, nicht Radek, sondern das um seine Befreiung kämpfende Weltproletariat!
Aucun commentaire:
Enregistrer un commentaire