Kritische Anmerkungen zu einer Klassikerin des Feminismus
Vorbemerkung: Der folgende Text ist die verschriftlichte Fassung eines Referats, das am 10. November 2011 im „Institut für vergleichende Irrelevanz“ (Frankfurt/Main) gehalten wurde.
Nous ne disposons malheureusement pas d'une traduction française valable de cet excellent texte de Roswitha Scholz
Einleitung
Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ spielte in der feministischen Theorie lange so gut wie keine Rolle mehr. In letzter Zeit taucht de Beauvoir aber nicht nur in neu erstellten Überblickswerken zu Klassikerinnen des Feminismus wieder auf; zu ihr und ihrer Theorie wurden inzwischen auch vermehrt Tagungen und Veranstaltungen angeboten. Auch im Feuilleton findet sie häufigere Erwähnung. Dies hat wohl nicht nur mit den üblichen Jahrestag-Events ihres hundertsten Geburtstags 2008 und ihres 25. Todestags 2011 zu tun, sondern dürfte nicht zuletzt einem Selbstreflexivwerden von Feminismus und Genderforschung in der gegenwärtigen Krisensituation geschuldet sein.
Noch in den 1970er Jahren hatte sich insbesondere ein Gleichheitsfeminismus mit dem Slogan: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird dazu gemacht“ auf de Beauvoir berufen. Alsbald jedoch bezichtigte sie der Differenzfeminismus, männliche Normalitätskriterien auf Frauen anzuwenden. Schließlich wurde ihr in den 1990er Jahren von einem dekonstruktiven Feminismus vorgeworfen, trotz aller Kritik der Geschlechterverhältnisse einem dualistischen Denken verhaftet zu sein und eine erneute Herstellung von Zweigeschlechtlichkeit zu betreiben.
Heute nun ist eine Zeit der Bilanzierung/Reflexion angebrochen: Was kommt nach Gleichheit, Differenz und Dekonstruktion? Wie weiter mit der Genderforschung, nachdem sie einerseits in Frage gestellt und es andererseits als unumgänglich postuliert wird, sie dennoch aufrecht zu erhalten? In dieser Zeit der Unsicherheit kommt man auch wieder auf Klassikerinnen wie de Beauvoir zurück. Dabei soll jedoch kein Neuland betreten werden; Gelüste auf eine Transzendierung des bestehenden und des früheren Denkens tauchen gar nicht erst auf. Die Theorie soll im gewohnten immanenten Referenzrahmen verbleiben. Dementsprechend wird krampfhaft versucht, „Queer“ mit den Ansprüchen eines materialistischen Feminismus kompatibel zu machen. Gerade in diesem Zusammenhang erfolgt der Rückgriff auf de Beauvoir, wie ich im folgenden kurz zeigen will.
In meinem Referat geht es um drei Fragestellungen: Erstens um die objektive Bedeutung de Beauvoirs im Rahmen einer Kritik der kapitalistischen Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung; zweitens um Übereinstimmungen und Grenzziehungen in Bezug auf de Beauvoir aus der Warte der von mir vertretenen Wert-Abspaltungskritik heute; und drittens um die Gründe, warum de Beauvoir gegenwärtig wieder aus der Versenkung geholt wird und auf welche Weise. Mir geht es dabei vor allem darum, im Kontext einer historisch-spezifischen Subjekt-Objekt-Dialektik des Kapitalismus die gegenüber den Subjekten gewissermaßen verselbständigte Objektseite ihres eigenen Zusammenhangs herauszustellen, die heute weitgehend vernachlässigt wird. Die Verlassenheit des Subjekts, ein wichtiger Bezugspunkt des (auch Sartreschen) Existentialismus im Gefolge einer problematischen Heidegger-Rezeption, ist dabei aus meiner Sicht Resultat der kapitalistischen Wert-Abspaltungsvergesellschaftung und nicht umgekehrt die (geschlechtsneutrale) ahistorisch-ontologisch gedachte „Existenz“ ihre Voraussetzung.
Zunächst möchte ich einige Grundgedanken von „Das andere Geschlecht“ noch einmal darlegen. De Beauvoirs Denken wurzelt bekanntlich im Existenzialismus und hier speziell demjenigen Sartres; ein Denken, das sie aufgrund eines lebenslangen Dialogs mitkonstituierte. Kernpunkt dabei ist, dass der Mensch ob seiner „Geworfenheit“ in die Welt zur „Freiheit“ verdammt ist. Er muss sich selbst erfinden und ist absolut selbstverantwortlich. Die Berufung auf äußere Bedingungen für seine Entscheidungen gilt daher als bloße Ausflucht. Es gibt kein vorausgesetztes menschliches Wesen, der Mensch und seine Existenz fallen im Grunde mit der „Tat“ zusammen, in der er sich transzendiert; ja er geht im Handeln über seine Existenz hinaus. Dies gilt nicht nur für den einzelnen, sondern für die gesamte Menschheit.
Dieser Gedanke liegt auch dem “Anderen Geschlecht“ zugrunde. Dabei gilt der Mann als Subjekt, die Frau als das Andere/Besondere. Die Kategorie des Anderen kennzeichnet die Existenz zwar schlechthin. Zeichnet sie sich gemeinhin jedoch durch Wechselseitigkeit aus, fehlt es im Geschlechterverhältnis gerade daran. Frauen willigen in dieses einseitige Verhältnis ein. Nicht zuletzt aus Bequemlichkeit, also um aus der Verantwortung zu flüchten, verbleiben sie in der patriarchalen Immanenz. Obwohl de Beauvoir nun der Meinung ist: „Man kommt nicht als Frau auf die Welt, sondern wird dazu gemacht“ (ein oft zitierter Satz), schwankt sie zwischen biologischen und sozialen Erklärungen, denen sie ihre existenzialistische Weltsicht unterlegt. Biologie ist für sie dabei in erstere Linie Ballast, den es abzuwerfen gilt, will die Frau zur Transzendenz gelangen. Folglich unterstützte sie durchaus zu Recht Abtreibungskampagnen und sah die lesbische Liebe als Alternative zur heterosexuellen Beziehung, denn der heterosexuelle Geschlechtsakt „stellt immer eine Art der Vergewaltigung dar“. Entscheidend ist für sie jedoch nicht die sexuelle Praxis als solche, sondern die zwanghafte Ausschließlichkeit von Heterosexualität (de Beauvoir, 2008, zusammenfassend: Hagemann-White, 1992).
Für die Frauenbewegung im Gefolge von 1968 war „Das andere Geschlecht“ eine Art Bibel, wie oft festgestellt wurde. Das gilt von Protagonistinnen wie Sulamith Firestone und Alice Schwarzer über Susan Brownmillers „Gegen unseren Willen“ (ein Antivergewaltigungsbuch) bis hin zu Christina Thürmer-Rohr mit ihrer „Mittäterschafts“-These, die bis heute als bloße Gegenposition zum „Opferfeminismus“ gehandelt wird, anstatt zu sehen, dass beide Varianten des Feminismus (die Seite des Opfers und die der Mittäterschaft) im Grunde ein existenzialistisches Fundament haben. Noch im Differenzfeminismus, sei es der von Irigaray oder derjenige der sogenannten Bielefelderinnen, wird nämlich der patriarchale Entwurf der Frau auch als utopische Vorstellung gewissermaßen entwendet und schon immer als transzendent gedacht, nämlich nun tatsächlich von der - in Wirklichkeit ebenso immer schon immanenten - weiblichen Seite her. Gerade Irigaray und de Beauvoir sind dabei als komplementär zu veranschlagen, insofern bei de Beauvoir die Frau als das defizitäre Andere des männlichen Subjekts bestimmt wird, während bei Irigaray stattdessen das verborgene Andere des Weiblichen das Eigentliche ist, dem es Respekt zu zollen gilt.
Zur Bedeutung des Existenzialismus in der kapitalistischen Wert-Abspaltungs-Vergesellschaftung
De Beauvoir und Sartre haben - wie andere TheoretikerInnen auch - Wandlungen innerhalb ihres Schaffens durchgemacht. Auf eine phänomenologische und existenzialistische Phase im engeren Sinne folgte der Rekurs auf die Marxsche Theorie schon seit der Nazi-Invasion in Frankreich. Die Herausbildung des französischen Existenzialismus wird häufig hiermit und mit der Notwendigkeit der Resistance in Verbindung gebracht. Das ist natürlich ein Unterschied zu Heidegger, auf den sich auch Sartre und de Beauvoir beziehen. Heideggers Philosophie entwickelte sich vor einem ganz anderen gesellschaftlichen Hintergrund in Deutschland. Seine Existenzphilosophie artikulierte das Grundgefühl des nationalsozialistisch-kleinbürgerlichen Mobs. Dagegen bezieht de Beauvoir auch marxistisches Gedankengut in ihre Theorie ein. Dies jedoch weniger im Hinblick auf die sozialökonomischen Ursachen von Frauenunterdrückung, sondern, wie in einer phänomenologisch-existenzialistischen Sicht üblich, mit einer eher deskriptiven Absicht, um das primär existenzialistisch untermauerte „andere Geschlecht“ zu bestimmen.
Auch wenn die theoretische Entwicklung von Sartre und de Beauvoir Metamorphosen durchgemacht hat, möchte ich hier Sartres Aufsatz „Materialismus und Revolution“ kurz in seiner Kernaussage referieren, um ihn sodann mit einer grundsätzlichen Argumentationsfigur in „Geschichte und Klassenbewusstsein“ von Lukács zu konfrontieren. Damit will ich den Gegensatz des Existenzialismus zu einer Kritik des gesellschaftlichen Fetischismus in der grundsätzlichen Formdimension (und in diesem Zusammenhang wie angedeutet einer Dialektik von Subjekt und Objekt) aufzeigen in der Perspektive der Wert-Abspaltungskritik. Wichtige Impulse hierzu hat mir Winfried Dallmayr in seinem Aufsatz „Phänomenologie und Marxismus in geschichtlicher Perspektive“ von 1977 gegeben.
Für Sartre ist ein Vulgärmaterialismus Steilvorlage seiner Kritik: „Um Subjektivität zu eliminieren, deklariert der Materialist sich selbst zum Objekt, d.h. zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. Sobald aber Subjektivität in die Objektwelt eingeebnet wird, greift der Materialist zur Finte; anstatt sich selbst als Gegenstand unter Gegenständen und unter der Kontrolle der Naturkausalität zu sehen, schwingt er sich zum objektiven Beobachter auf und behauptet, die Natur an sich, so wie sie ist, im Griff zu haben“ (Sartre, zit. n. Dallmayr, 1977, S. 32). Dabei sind nach Sartre gesellschaftliche Strukturen im Marxismus Naturgesetzen gleichgestellt. Stattdessen müsse der Marxismus, so Sartre, mit dem Existenzialismus verbunden werden. Für ihn heißt das, dass eine kontemplative materialistische Position verlassen werden muss. Das Zusammenspiel der Erkenntnis mit Praxis, existenzialistisch gefasst, ist demgegenüber sein Anliegen, wobei er selbst wiederum ganz traditionsmarxistisch Praxis mit „Arbeit“ in einem ontologischen Sinne verbindet. Es ist nach Sartre das Denken der herrschenden Klasse, dem der herkömmliche Marxismus aufsitzt in Form einer materialistischen kontemplativen Ideologie. Hingegen sei das Proletariat dazu prädestiniert, sich zu engagieren, auch wenn es der erkenntnistheoretisch-marxistischen Fundierung bedürfe.
Phänomenologie, sein eigener Existenzialismus und ein marxistischer Begriffsschematismus werden nun bei Sartre wie folgt verknüpft. Gefordert sei eine Erkenntnistheorie, „die nachweist, dass menschliche Realität Tätigkeit ist und dass tätige Bearbeitung der Welt mit dem Verständnis dieser Welt, wie sie ist, zusammenfällt“ (Sartre zit. n. Dallmayr, 1977, 33). Sein bzw. marxistisch verstandenes Sein, Materialität, wird so in Sartres verkürztem Verständnis letztlich in existenzialistisch verstandenes Bewusstsein aufgelöst, und zwar mit der Konstruktion der Möglichkeit eines völlig anderen Entwurfs von Gesellschaft, vom Proletariat ausgehend. Deshalb müsse der Marxismus eine Theorie der Transzendenz sein. Dallmayr kommentiert dazu, dass Sartre „auch in der Nachkriegszeit dem radikalen Freiheitsbegriff seiner Frühschriften im Grunde treu (blieb), obwohl der Begriff jetzt durch die Betonung der Arbeit stärker mit der Wirklichkeit vermittelt wurde. Die Einbürgerung dieses Freiheitsbegriffs in den Marxismus hat aber ernste Konsequenzen, - Konsequenzen, die Sartre zu erwähnen verabsäumt. So wie das phänomenologische Frühwerk durch den Gegensatz von Bewusstsein und Dingwelt geprägt war, so ist auch jetzt revolutionäre Praxis nur auf dem Hintergrund dauernder Ausbeutung sinnvoll, so wie in >Sein und Nichts< Bewusstsein als >Für sich< trotz eifriger Bemühungen niemals mit dem >An-Sich< verschmelzen konnte, so kann auch in >Materialismus und Revolution< der Klassenkampf nie zum Erlahmen kommen. Sartres geschichtliche Perspektive visiert daher nicht so sehr eine klassenlose Gesellschaft an, als ein Abwechseln verschiedener Varianten des sozialen Sadismus und Masochismus. Seine späteren Schriften haben dieses Dilemma vielleicht abgemildert, aber nie ausgeräumt“ (Dallmayr, a.a.O., S. 34 f.). Irgendwie muss es immer etwas geben, über das „hinauszugehen“ ist; das gehört zum Sartreschen Philosophiekonzept schlechthin.
Sartre bleibt somit aus meiner wert-abspaltungskritischen Sicht in einem ontologischen Denken und prinzipiell in einem unauflösbaren Subjekt-Objekt-Dualismus befangen. Auch noch in seiner Marxismus-Emphase muss er der existenzialistischen Tat, dem Entwurf, der im Grunde immer derjenige einer Arbeits-Tat ist, letztlich die Stange halten. Dallmayr bemerkt, dass Sartre hinter den vergleichbaren Aufsatz „Geschichte und Klassenbewußtsein“ von Lukács „in manchen Punkten - etwa im individualistischen Akzent und in der Begriffsschematik - zurückfällt“ (a.a.O., S. 35). Allerdings konkretisiert Dallmayr dies nicht, schon gar nicht im Hinblick auf die gesellschaftliche Form, die Wertform bzw. Wert-Abspaltungsform, wie ich dies nun zunächst anhand eines zentralen Gedankens von Lukács schlaglichtartig versuchen will.
Zwar ist auch Lukács zweifellos ein Klassenkampf-und Arbeitsapologet im Sinne des Traditionsmarxismus. Dennoch hat er in seinem berühmten Verdinglichungsaufsatz (1923/1967) als erster das Problem der übergreifenden Fetischform der Ware umfassend thematisiert, die sowohl Kapitalist als auch Proletarier übersteigt und eben nicht im Sinne eines billigen immanent-funktionalen Widerspruchs zu fassen ist. Insofern kann auch nicht das Objekt, wie letztlich bei Sartre, ins Subjekt aufgelöst werden, sondern es sind Vermittlungen vonnöten, die einem traditionell Basis-Überbau-Schema im Sinne einer simplen Widerspiegelungstheorie entgegenstehen. Zentral ist dabei die geschichtliche Perspektive. So schreibt Lukacs etwa: „ Es darf (…) nicht vergessen werden, dass Unmittelbarkeit und Vermittlung selbst Momente eines dialektischen Prozesses sind, dass jede Stufe des Seins (und des begreifenden Verhaltens zu ihr) ihre Unmittelbarkeit hat, in dem Sinne der Phänomenologie (Hegels, R.S.), wo wir dem unmittelbar gegebenen Objekte gegenüber, uns ebenso unmittelbar oder aufnehmend verhalten, also nichts, wie es sich darbietet, zu verändern haben. Das Hinausgehen über diese Unmittelbarkeit kann nur die Genesis, die >Erzeugung< des Objekts sein. Dies setzt hier aber voraus, dass jene Vermittlungsformen, in denen und durch die über die Unmittelbarkeit des Daseins der gegebenen Gegenstände hinausgegangen wird, ALS STRUKTIVE AUFBAUPRINZIPIEN UND REALE BEWEGUNGSTENDENZEN DER GEGENSTÄNDE SELBST AUFGEZEIGT WERDEN, dass also gedankliche und geschichtliche Genesis (anders als bei Hegel, R.S.) - dem Prinzip nach zusammenfallen“ (Lukács, 1967, S. 171; Hervorheb. i. Original).
Lukács geht es so nicht schon immer um einen objektiv veranschlagten Marxismus, sondern er geht über den notorischen äußerlichen Dualismus im traditionellen Marxismus von Materialismus/objektiven Strukturen einerseits und Subjektivität/Bewusstsein andererseits in der dialektischen Vermittlung hinaus. Auch wenn er dabei aufs Proletariat als immanente Kraft setzt, ist er zumindest in diesem berühmten Aufsatz dennoch der Unmittelbarkeit nicht in demselben Maße ausgeliefert wie der Existenzialismus grundsätzlich. Sartre geht es selbstredend schon immer mit Heidegger um den abstrakten Menschen in der Welt, d.h. eigentlich um den unmittelbar und schlechthin „seienden“ Mann auf der Straße; seine Philosophie ist ohne diese Figur nicht denkbar und setzt bei ihr unmittelbar „praktisch“ an. Sein Totalitätsbegriff bzw. sein Begriff der konkreten Totalität als „synthetischer Totalität“ hat so immer schon diesen „unmittelbaristischen“ Bezug, und zwar auch dann, wenn er die gesamte Menschheit im Blick hat und deren Existenz von eben diesem selber abstrakten Ausgangspunkt her überstiegen werden soll. Entscheidend ist so bei Sartre und dann eben auch bei de Beauvoir eigentlich eine Betroffenheitsideologie vor dem Hintergrund einer abstrakt gesetzten „Existenz“, die im Grunde ohne grundsätzlichen Bezug auf eine gesellschaftlich-historisch konstituierte Außenwelt im Sinne einer fetischistischen Verfasstheit auskommt.
Für Sartre ist der Existenzialismus ein (abstrakter) Humanismus; das Individuum an sich, der „Mensch“ auch im Sinne der Menschheit überhaupt, wird hier in falscher Unmittelbarkeit am Portepee gepackt. Bei Frauen fällt dies aufgrund der patriarchalen Geschichte vielleicht auf besonders fruchtbaren Boden, wobei man allerdings sagen muss, dass diese unmittelbare Betroffenheit im Sinne des Existenzialismus wenig rührselig ausfällt und tendenziell in einem Pessimismus, so bei de Beauvoir geradezu in einer Anklage „der Frau“ endet, die sich in der Immanenz zufrieden gibt. Was dabei angeklagt wird, ist aber verborgen auch in den eigenen theoretischen Voraussetzungen enthalten. Denn von diesen her kann sich die Frau den Verhältnissen sadomasochistisch-immanent beugen, wie die existentialistisch-bekennend-demütige Mittäterschafts-These von Thürmer-Rohr bezeugt, die das Problem nicht strukturell-sachlich in einem gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang verorten kann, der auch der subjektiv-bekennenden Mittäterschaftsfrau vorgelagert ist und eigentlich zu kritisieren wäre.
Geschlechterverhältnis und gesellschaftliche Struktur
Sowohl Sartre als auch Lukács setzen mit ihrer Analyse im Grunde bei der Arbeit und dem Arbeitsmann als Ausgangspunkt an. Während Sartre allerdings existenzialistisch schon qua philosophischem Hintergrund auf den Boden der Unmittelbarkeit notwendig verwiesen ist, gibt Lukács das kritische Potential im Hinblick auf die gesellschaftliche Form im Sinne von Marx an. Dies kann potentiell sowohl im Sinne einer Infragestellung der abstrakten Arbeit als Grundprinzip genutzt werden als auch im Sinne einer Kritik der Wert-Abspaltung, die den Stellenwert der abstrakten Arbeit noch einmal modifiziert. Dabei wäre das obige Lukács-Zitat allerdings wert-abspaltungskritisch zu erweitern, um die „struktiven Aufbauprinzipien und realen Bewegungstendenzen“ neu zu bestimmen, die als Vermittlungsformen die Unmittelbarkeit des Daseins übersteigen. Dies kann ich hier nur in groben Zügen skizzieren.
Die Wert-Abspaltungskritik geht bekanntlich davon aus, dass als weiblich bestimmte Reproduktionstätigkeiten (Hausarbeit, „Liebe“, Hege, Pflege), aber auch entsprechende Haltungen (etwa Fürsorglichkeit) und minderbewertete Eigenschaften wie Sinnlichkeit, Emotionalität, Charakter- und Verstandesschwäche etc. eben vom Wert und der abstrakten Arbeit, die sich mit dem Kapitalismus ebenso erst konstituiert haben, abgespalten und den Frauen zugewiesen werden. Derartige Zuschreibungen charakterisieren auch wesentlich die symbolische Seite des warenproduzierenden Patriarchats, eine Seite, die durch das Marxsche Begriffsinstrumentarium nicht erfasst werden kann. Ebenso muss, sozialpsychologisch gesehen, das männliche Kind sich von der Mutter abwenden und eine Abspaltung/Abwertung des Weiblichen vollziehen, um eine männliche Identität ausbilden zu können; wohingegen sich das Mädchen mit der fürsorglichen Mutter identifizieren muss, um zur „Frau“ zu werden.
Die geschlechtliche Abspaltung ist nun notwendig gleichursprünglich mit dem Wert gesetzt, gehört zu ihm und ist seine stumme Voraussetzung, ohne die er nicht existieren kann, gleichzeitig ist sie sein Anderes und als solches von ihm bzw. seinen „Subjekten“ unerkannt. Das eine kann somit nicht aus dem anderen abgeleitet werden, sondern beide Momente gehen auseinander hervor und begründen so eine historisch-dynamische Vorwärtsspirale der Gewinnung von Mehrwert, die historisch einzigartig ist. Dabei geht diese Wert-Abspaltung als Grundprinzip durch alle Sphären und Bereiche, sie kann also nicht mechanisch in den Gegensatz der Sphären von Privatheit-Öffentlichkeit, Produktion-Reproduktion aufgeteilt werden. Auch wenn Frauen heute „doppelt vergesellschaftet“ werden, somit für Familie und Beruf gleichermaßen als zuständig gelten, wie Becker-Schmidt sagt, und sie zu einem Gutteil in die offizielle Gesellschaft eingebunden sind, bleiben sie immer noch im Gegensatz zu Männern primär für Haushalt und Kinder zuständig, verdienen sie weniger als Männer, obwohl sie diese im Bildungsniveau überflügeln, und müssen sie mehr kämpfen, um in die oberen Etagen zu gelangen. Noch im heutigen Ruf nach der Quote scheint eher eine traditionelle patriarchale Imagination auf, wonach die Frau in der Krise zur allzuständigen „geborenen Trümmerfrau“ des Sozialen erklärt wird, wenn das warenproduzierende Patriarchat aus den Fugen gerät. In diesem Zusammenhang wäre auch ein gesellschaftliches androzentrisches Unbewusstes zum Thema zu machen, das patriarchal-warenproduzierende Verhältnisse noch heute ermöglicht.
„Die Frau“ im materiellen, sozialpsychologischen und kulturell-symbolischen Gewebe der Wert-Abspaltung als Grundprinzip steht somit in anderer Weise sowohl der Unmittelbarkeit als auch dem vermittelten Gesamtzusammenhang gegenüber, als es bei de Beauvoir erscheint, die eine abstrakte „Existenz“ zum gesellschaftlich unbestimmten Urgrund macht, wenn sie, zwischen Biologiebezogenheit und deren Relativierung changierend, schreibt: „(Es) müssen die biologischen Gegebenheiten im Licht eines ontologischen, ökonomischen, sozialen und psychologischen Zusammenhangs untersucht werden. Die Unterwerfung der Frau unter die Art und die Grenzen ihrer individuellen Fähigkeiten sind außerordentlich wichtige Tatsachen; der Körper der Frau ist eines der wesentlichen Elemente für die Situation, die sie in der Welt einnimmt. Aber andererseits genügt er auch nicht, um sie zu definieren; er hat nur gelebte Realität, sofern er vom Bewusstsein durch Handlungen und innerhalb einer Gesellschaft bejaht wird. Die Biologie reicht nicht aus, um eine Antwort auf die Frage zu geben (…): warum ist die Frau das Andere“ (Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht, 2008, Hervorheb. i. Orig.). Die ahistorische Abstraktheit des Ausgangspunkts und die damit verbundene Unbestimmtheit des Gesellschaftlichen lassen de Beauvoir die Projektionen auf das Biologische nur unzureichend erfassen.
Dennoch gehören auch ihre Texte zu den theoretischen Voraussetzungen der Wert-Abspaltungskritik, die ja die Abspaltung des Weiblichen als das „Andere des Werts“ bestimmt und damit durchaus einen Grundgedanken de Beauvoirs aufnimmt. Der Begriff des Anderen in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse bleibt dabei jedoch nicht in existenzialistischer Unmittelbarkeit sozusagen in der Luft stehen, sondern wird in die spezifisch-historische Konstitution des Kapitals und deren strukturell-prozessualen Zusammenhang eingeordnet, sodass es auch nicht mehr allein um das Geschlechterverhältnis als solches geht, sondern ausgehend von der Wert-Abspaltung als Grundprinzip um den „struktiven Aufbau“ des gesellschaftlichen Fetischverhältnisses als Ganzem.
Gemeinsamkeiten mit de Beauvoir sind hierbei, dass der Mann als (allgemeines) Subjekt und die Frau als das Besondere in der kapitalistisch-patriarchalen Realität firmieren sowie entsprechende Bewertungshierarchien aufgemacht werden. Das betrifft natürlich auch das Verhältnis von offizieller Produktion (in der von mir vertretenen Diktion mit Marx als abstrakte Arbeit gefasst) und „Hausarbeit“ als komplementärer Tätigkeit zur Bestimmung von männlicher Allgemeinheit und weiblicher Besonderheit. Ebenso teilt die Wert-Abspaltungskritik mit de Beauvoir die radikale Kritik und Verweigerung der Frauenrolle; heute also auch der Zumutung, für Familie und Beruf gleichermaß zuständig sein zu sollen, um in der Post-Postgesellschaft leistungsstarke perfekte Mittelschichtskinder in die Welt zu setzen. Weiterhin trifft sich Simone de Beauvoir mit der Wert-Abspaltungstheorie darin, dass die Zwangsheterosexualität in Frage gestellt wird, ohne indes die Existenz eines geschlechtlichen Körpers überhaupt zu leugnen; auch wenn de Beauvoir dabei teilweise noch falsche ontologisch-biologische Grundlagen annimmt, die sie von einem ebenso falschen radikalen Konstruktivismus aus angreifbar gemacht haben.
Ganz entschieden stimmt die Wert-Abspaltungskritik mit de Beauvoir darin überein, dass das bestehende Geschlechterverhältnis nach wie vor als hierarchisches thematisiert werden muss; allerdings eben in der Rückführung auf die spezifische gesellschaftliche Formbestimmtheit und nicht abstrakt-existenzialistisch davon getrennt. Das ist noch in der Kritik an de Beauvoir dennoch ein gemeinsamer klarer Gegensatz zum heute dominierenden Denken eines Dekonstruktivismus, der die harten Hierarchien systematisch verschwiemelt. Schließlich kritisiert die Wert-Abspaltungskritik mit de Beauvoir auch eine klassisch-feministische Differenzperspektive, allerdings nicht im Kontext eines Gleichheitsdenkens, sondern indem sie eine Überwindung von abstrakt-bürgerlicher Gleichheit, biologistischer Differenz und postmodern-affirmativer Dekonstruktion gleichermaßen anstrebt.
Geschlechterverhältnis und Geschichte
Es ist de Beauvoir, die in der modernen Geschichte erstmals als Frau systematisch eine groß angelegte Analyse des Geschlechterverhältnisses vorgelegt hat, wenngleich auch auf ihrem existenzialistischen Fundament, das es ihr verunmöglicht, sich selber historisch zu verorten im Prozess kapitalistischer Entwicklung. Sie arbeitet dabei auch die wenigen männlich-feministischen Denker auf, die es in der Geschichte gegeben hat. Dass ihre Sichtweise neue Wirkmächtigkeit gewinnt, kommt allerdings nicht von ungefähr. Frauen können es sich in den letzten Jahrzehnten nicht mehr leisten, auch nur in der Vorstellung bloß Hausfrau zu sein. Heute sollen sie eben im Sinne von Trümmerfrauen allzuständig werden noch in der geschlechtlich-symbolischen Abwertung, wenn es Männer aufgrund des Obsoletwerdens der abstrakten Arbeit nicht mehr schaffen. Dabei hat Andrea Truman zweifellos recht mit ihrer Kritik an der Arbeitsfixiertheit und einer ausgerechnet darauf bezogenen Transzendenzvorstellung bei de Beauvoir.
Entscheidend für ein zureichendes Verständnis der modernen (und postmodernen) historischen Entwicklung ist die übergreifende, an sich selber prozessierende Struktur des Wert-Abspaltungsverhältnisses, auch wenn dieser Zusammenhang nicht unabhängig von den Handlungen der Individuen existiert; auch bei Marx ist ja der verselbständigte Fetisch-Zusammenhang von den Menschen selber erzeugt und gemacht, wenn auch bewusstlos. Aus der Sicht der historisch-prozessual orientierten Wert-Abspaltungskritik war nun die Rezeption von de Beauvoir bedeutsam für die Widerspruchsbearbeitung in einer bestimmten Phase des Kapitalismus, nämlich dem Übergang vom Fordismus zum Postfordismus.
Der noch nicht auf das Ganze des Kapitalfetischs bezogene weibliche Drang zu einer bestimmten Art von Transzendenz kam so ungewollt der immanenten Entwicklung zu pass. Susanne Moser stellt fest: „Der Existenzialismus hat vieles von dem vorweggenommen, das bis heute an der Tagesordnung ist: Keine gottgewollte Ordnung bestimmt mehr den Platz, den der Einzelne einnimmt. Der Platz in der Gesellschaft muss erkämpft werden…Wir müssen uns alle selber finden, vom Job bis zum Sinn in unserem Leben. Was also damals, in der Zeit Beauvoirs noch rein theoretisch diskutiert wurde, ist heute Realität geworden“ (2008).
Nach einer nachdrücklichen Feier Simone de Beauvoirs in den1970erJahren veränderte sich die Bewertung ihrer Ansichten nach einer Phase des Differenzfeminismus ins Negative, insofern in einer Queer-Politik und Queer-Theorie Geschlecht nun gänzlich kontingent veranschlagt wurde und manche in einer platten Szene-Ausdeutung der Theorie von Judith Butler gar bis heute meinen, das Geschlecht ließe sich wie die Kleider wechseln. Dabei hat Gender mit Queer den grundsätzlichen Gedanken der Bedeutungszuweisung und „Herstellung von Geschlecht“ vor dem Hintergrund einer gegenüber der kapitalistischen Form weitgehend unkritischen Hypostasierung von Kultur und Sprache gemein.
De Beauvoir wird dabei der Reifikation von Zweigeschlechtlichkeit geziehen. So schreibt Butler: „Die diskursive Konstruktion des >Körpers< und seine Trennung von der >Freiheit< bei Beauvoir ist nicht imstande, jene Geist-Körper-Unterscheidung, die das Fortbestehen der Geschlechter-Asymmetrie (gender asymetry) erhellen könnte, an der Achse Geschlechtsidentität entlang zu markieren“ (Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, 1991, S. 31 f.). Ergo: De Beauvoir wird vorgeworfen, dass sie nicht völlig die kulturelle Gender-Schiene, wie Butler sie als entscheidende veranschlagt, hypostasiert! Ganz im Gegenteil ist aber die Analyse von de Beauvoir mit ihrem Beharren auf der Thematisierung realer Hierarchien eine Voraussetzung, um die grundsätzliche patriarchale Verfasstheit des Kapitalismus zu erhellen. Diese kann nicht in einer dekonstruktivistischen oberflächlichen Durchmischung außer Kraft gesetzt werden; ganz davon abgesehen, dass Butler selbst diesem Geist-Körper-Dualismus anheimfällt, wenn sie davon ausgeht, dass sex immer schon gender sei und bei ihr die Kultur ganz klassisch-patriarchal über Natur in undialektischer Weise obsiegt und die Hauptmacherin ist. Obwohl de Beauvoir tatsächlich vor ihrem existenzialistischen Hintergrund letztlich zu einer biologisch-ontologischen Sichtweise des hierarchischen Geschlechterverhältnisses neigt, was zu kritisieren ist, hat sie dennoch damit, dass sich in dieser Asymmetrie gender für sie nicht widerspruchslos reimt, mehr recht als Butler mit ihrer allzu glatten kulturalistischen Analyse.
Zwar kritisiert Butler an de Beauvoir ebenso wie ich das humanistisch-existenzialistische Subjektverständnis, aber mit einem ganz anderen und geradezu entgegengesetzten Begründungszusammenhang. Für Butler ist die gesellschaftliche Totalität, insbesondere in „Gender Trouble“, gewissermaßen bloß eine Sprach- und Diskurstotalität. Ein umfassendes Verständnis der Totalität als Subjekt-Objekt-Dialektik des fetischistischen Formzusammenhangs fehlt; ja bei Butler findet sich geradezu eine bloße Umkehrung des Basis-Überbau-Schemas, indem Kultur, Diskurs und Sprache gewissermaßen zum Unterbau materieller Realitäten gemacht werden, wie häufig mit Recht konstatiert wurde. So ist ihre Theorie letztlich falsch und „übergeschnappt“ in einer Ontologie des Kulturellen, wie sie postmodern-gesättigt üblich ist, die das reale gesellschaftliche Verhältnis in seiner fetischistischen Vermitteltheit als Wert-Abspaltungsvergesellschaftung nicht zu thematisieren vermag. (Kulturelle) Identität überhaupt bzw. kulturelle Geschlechtsidentität/Gender ist dagegen für die Wert-Abspaltungskritik nicht das allererste Problem. Ihr geht es zunächst einmal um die grundsätzliche Form der Wert-Abspaltung als gesellschaftliches Basisprinzip, das als solches selbst erst „objektive Daseinsformen“ (Marx) konstituiert und daher auch die Voraussetzung kultureller Identitätsbildungen ist. Ohne die Kritik und Analyse dieser Voraussetzung hängt der Dekonstruktivismus genauso in der Luft wie der Existenzialismus.
Warum eine Reminiszenz an de Beauvoir heute?
Gegenwärtig erscheinen Aufsatzsammlungen mit Titeln wie „ Alles Gender?“ „Gender in Motion“, „Was kommt nach der Genderforschung?“ usw., auch wenn die allgemeine langweilige Konsequenz dann lautet: Nach der Genderforschung ist vor der Genderforschung. Aber „Gender“ ist offenbar irgendwie abgenudelt. Im Nachhinein scheint es mir ein bloß wohlfahrtsstaatliches Theorie-Ideologem zu sein, passend zu einer Phase, in der sich Frauen Teilnahmerechte erstritten hatten und auf dieser Grundlage mit der Annahme, es werde wohl so weiter gehen, eine eher phlegmatische Haltung an den Tag legten. Heute wird eine sträfliche Vernachlässigung der nach wie vor hierarchischen Geschlechterdimension deutlich. Nachdem diese Problematik schon fast als „gegessen“ betrachtet worden war, wird heute deutlich, dass Geschlechterstrukturen und Geschlechtsidentitäten offenbar tiefer sitzen, als man angenommen hat, auch wenn es bürgerlichen Alphamädchen erst einmal vorbehalten war, ein derartig affirmatives, mit dem Neoliberalismus kompatibles „Unbehagen“ zu formulieren.
Hinzu kommt noch, dass die allgemeine gesellschaftliche Krisensituation, die auch Mittelschichts-Individuen immer mehr den Absturz ahnen lässt, einen Rekurs auf materielle Ebenen nahelegt, der einer kulturalistischen Queer- und Gender-Perspektive nicht nur fehlt, sondern aus dieser Sicht auch kulturalistisch-arrogant lange Zeit als sekundär abgetan wurde. Den VertreterInnen dieser Haltung schwimmen nun die Felle davon, und so wird hurtig wieder die materielle Ebene entdeckt, die auf einmal angeblich wunderbar mit dem dekonstruktivistischen Denken zur Deckung zu bringen sei. Dabei wird unterstellt, dass unterschiedliche feministische Konzepte angeblich sowieso im Grunde alle dasselbe wollen. Der viel beschworene Respekt vor der Differenz, den Unterschieden zwischen den einzelnen Konzepten, wird so genau in dem Moment, wo er sich nicht mehr in einem unverbindlichen Pluralismus erschöpfen kann, eklektisch eingeebnet, um eben die Unterschiede in einem nach wie vor postmodernen „Anything goes“ unterzupflügen. Unterschiedliche Theoriekonzepte sollen geradezu gewaltsam kompatibel gemacht und unter ein postmodern zurechtgeschneidertes Versöhnungsmäntelchen gebracht werden.
Und genau in diesem Zusammenhang taucht auf einmal auch die mittlerweile jahrzehntelang vernachlässigte, ja sogar sowohl von einem Differenz- als auch einem Dekonstruktions-Feminismus geschmähte Simone de Beauvoir wieder als diskutable Grundlage auf : „Wegen ihres Infragestellens der überzeitlichen und überregionalen Kategorie(n) >Frau< (und >Mann<), dem Ablehnen einer Basis, die allen Frauen gemein ist, wurde Butler vorgeworfen, dass dieser Standpunkt es unmöglich mache, die Unterdrückung der Frauen in der Gesellschaft wirkungsvoll zu bekämpfen. Hier ist wieder ein Blick auf Beauvoir hilfreich. Sie belegt auf verschiedene Weise das Gegenteil: Einerseits und ganz praktisch hat ihr Buch gerade den Kampf für die Gleichberechtigung von Mann und Frau befeuert. Andererseits leugnet sie mit dem grundlegenden Anzweifeln einer >natürlichen< geschlechtlichen Basis eben nicht, dass es derzeit tatsächlich und ganz real in dieser Gesellschaft Männer und Frauen gibt und dass ein dauerhaftes offensives Streiten notwendig ist, um Diskriminierungen von Frauen und Gewalt gegen Frauen zu beenden. Es muss also um ein Miteinander dieser beiden Perspektiven gehen, will man einerseits den aktuellen Bedürfnissen von Menschen Rechnung tragen (und dabei auch wirksam gegen aktuell stattfindende Benachteiligungen und Gewalt vorgehen) und andererseits am Ziel eine künftigen besseren Gesellschaft festhalten, in der patriarchale und kapitalistische Herrschaftsverhältnisse überwunden werden“ (Voß, 2011, S. 15).
Dass de Beauvoir den biologischen Körper dabei äußert ambivalent veranschlagt hat, lässt Voß einfach außen vor. Silvia Stoller schreibt: „Zu Beauvoirs Zeiten gab es gravierende Ungleichheiten, daher war eine Gleichheitsforderung wichtig - und wir können noch immer nicht darauf verzichten Aber auch ein Differenzdenken ist heute wichtig. In Zeiten, in denen Pluralität ein positiver Wert ist, müssen wir einen Begriff von Differenz haben. Das Problem aber ist, dass man mit der Differenz sehr sträflich umgeht (…) Es gibt den Zwang, andere anzugleichen - etwa wenn man ein Kopftuch trägt, kein Deutsch spricht oder was auch immer. Insofern denken wir Differenz noch nicht radikal genug. Und zu guter Letzt können wir auch auf die Gedanken rund um die Konstruktion nicht verzichten. Butler hat uns gelehrt, hinter das Offensichtliche zu schauen. Sie zeigt uns, dass das allzu >Natürliche< nicht natürlich ist und etwa Fragen zu stellen wie: Wer ist jetzt wirklich eine Frau? … Jede dieser theoretischen Analysen und Forderungen ist heute aktuell…Wenn man Dekonstruktionstheoretikerin war, durfte man (in den Neunzigern, R.S.) kaum den Begriff Differenz von Irigaray ins Spiel bringen. >Differenz< rief gleich die Vorstellung von >Zweigeschlechtlichkeit<, >Heterosexualität<, >Konservativität< usw. hervor. Ich habe diese negative Bewertung nie verstanden, denn die Pluralität, die die Konstruktionstheoretikerinnen einfordern, baut doch auf Differenz auf. Ohne Differenz gibt es keine Pluralität“ (Stoller, 2011).
Statt die verschiedenen verkürzten Perspektiven im Feminismus zu überwinden und zu einer neuen Sicht auf der Höhe der Zeit zu gelangen, wird hier eklektisch die gleichberechtigte Akzeptanz und gleichzeitig ein konziliantes Sehen von Überlappungen proklamiert, wobei die Geschlechterdifferenz gewissermaßen kontingent, als Differenz neben anderen erscheint.
Wenn die Lebenssituation prekärer und es im buchstäblichen Sinne „existenzieller“ wird, bringt es gerade diese Krisenentwicklung mit sich, dass ein abstrakter universalistisch-geeichter und mitunter auch seichter Phänomenologismus wieder vermehrt angesagt ist. Auch in diesem ideologischen Kontext ist eine erneute Rückbesinnung auf de Beauvoir zu sehen, gerade hinsichtlich ihrer problematischen philosophischen Grundlagen. „Der Mensch in der Welt“, die absurdeste Fragestellung überhaupt, ist nicht von ungefähr wieder aktuell geworden; sogar noch gegen den Poststrukturalismus gewendet, wobei heute die Entfremdungsproblematik mit Neu-Stratifizierungen jenseits der traditionellen Klassengesellschaft zusammenschießt. So findet auch wieder verstärkt ein Rekurs auf Heidegger im Original statt im Zuge einer Angst der Mittelschichten vor dem Absturz. Und auch da, wo Heidegger nicht explizit erwähnt wird, bemüht man im Grunde seine Fragestellungen und die dementsprechende Herangehensweise. Auch Carl Schmitt und sein Dezisionismus feiern schon seit längerem fröhliche Urständ im post-foucaultschen Zeitalter. Eine sanguinisch-postmoderne Heidegger-Rezeption im Sinne des „Vive la Difference“ mit Rekurs etwa auf Derrida, der Heidegger noch mit dessen eigener Metaphysikkritik überflügeln wollte, scheint dagegen auszulaufen; sie scheint noch der konsumbasierten Phase im postfordistischen Finanzblasen-Kapitalismus angehört zu haben.
In diesem Zusammenhang scheint es mir auch so zu sein, dass Sartre, aber eben auch de Beauvoir, heute in einer gleichsam linksphänomenologisch-existenzialistischen Wendung gerade mit ihren problematischen philosophischen Ideen wieder auftauchen. So etwa auch im „antideutschen“ Kontext, was die Analyse des Antisemitismus betrifft, als ließe sich ein gefährlicher Antisemitismus als Krisenideologie aus faschen Abstraktionsängsten heraus, die selbst antisemitisch vermittelt sind, überhaupt im Kontext von „entscheidungsphilosophischen“ Fragestellungen beantworten. In der konkreten historischen Situation der Zwischenkriegszeit war noch die Alternative zwischen dem Nationalsozialismus und einem stalinistisch verfassten „Realsozialismus“ (der anders geartet selber antisemitische Züge aufwies) gegeben. Deswegen kann jedoch nicht eine dezisionistische Analogie aufgemacht werden, ausgehend von einer abstrakten Existenz als allgemeinem Urgrund, der einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik unterlegt bzw. ihr zu entscheidenden Teilen beigemengt ist. Auch wenn die tatsächlichen Entscheidungsmöglichkeiten so im Konkreten nicht immer bestimmt sind, sie bewegen sich schon immer als solche innerhalb eines fetischistischen Zwangszusammenhanges, der auch diese Entscheidungen bedingt, selbst wenn sie nicht darin aufgehen und die Verantwortung in diese verschoben werden kann.
Voluntaristische Haltungen werden heute sowohl via Situationismus (bzw. Neosituationismus respektive Vulgärsituationismus - siehe den Bestseller „Der kommende Aufstand“ mit gefährlicher Nähe zum Sorelismus) neu legitimiert als auch bei Teilen der „Antideutschen“, die eine abstrakte „Entscheidung“ begründungs- und vermittlungslos in den Raum stellen (für oder gegen den Sozialismus, in Wahrheit für oder gegen die kapitalistische Aufklärungsvernunft). Nicht zufällig gibt es bereits Kongresse zur Vereinbarkeit, aber auch Differenz von Sartre und Adorno, wobei ein grundsätzlicher Versöhnungswille schon im Programm deutlich wird, statt die Differenz neu auszutragen. Eine Verantwortung der Individuen für die gesellschaftliche Entwicklung ließe sich stattdessen erst in einem fetischismuskritischen Reflexionszusammenhang bestimmen, der eine Dialektik von Struktur und Handlung in diesem Sinne (also die blinde Voraussetzung der gesellschaftlichen Formen einbeziehend) keineswegs leugnet.
Nahezu gänzlich unbeachtet, und darauf kann ich hier leider nicht ausführlicher eingehen, ist der „Zigeuner“/die „Zigeunerin“ als Untermensch/Nichtmensch/homo sacer par excellence in der Konstitution der Moderne. Zwar wird der Antiziganismus als Variante des Rassismus endlich vermehrt thematisiert, aber eben kaum in seiner ganzen Tragweite. Sinti und Roma bilden in der Modernisierungsgeschichte als per se für vogelfrei erklärte Populationen eine notwendige Voraussetzung der Wert-Abspaltungsverhältnisse, indem sie in extremer Weise eine „existenzielle“ Abstoßungsdimension markieren und dies auch „wahllos“ zu spüren bekommen. Diese Grundlage bleibt als solche weithin unerwähnt, gerade wenn sie als Angstideologie auf die heutige potentielle Absturz-Situation der Mittelschichten projiziert wird (Vgl. Scholz 2007).
In diesem Kontext halte ich es für eine Illusion und eine Rationalisierung, die gewissermaßen existenzielle Frage nach der Überwindung des fetischistischen Wert-Abspaltungsverhältnissees, die als (immer auch praktisch-unmittelbare) Subjekt-Objekt-Frage nicht zuletzt und gerade in der „Zigeuner“-Verfolgung in Erscheinung tritt, zu ignorieren oder „existenzideologisch“ ins Subjekt aufzulösen. Stattdessen muss der Spagat zwischen Subjekt und Objekt in einem historisch verstandenen Sinne, der die Unmittelbarkeit in einem praktischen Verständnis vermittelt einschließt, ausgehalten werden, um zu einer konkret-historischen Transzendierung zu gelangen. Strukturell ist somit unbedingt die Wert-ABSPALTUNGS-Vergesellschaftung als Voraussetzung zu nehmen, zunächst einmal ungeachtet der empirischen Frauen (und Männer), die zwar individuell darin nicht aufgehen, sich aber dennoch diesem gesellschaftlichen Konstitutions-Zusammenhang nicht entziehen können. Die fetischistische gesellschaftliche Synthesis der Moderne in ihrer konkreten Totalität bildet überhaupt den tieferen Grund, warum die abstrakte Fragestellung nach „der“ Existenz „des“ Menschen in der Welt eigentlich auftaucht; denn einen unhistorisch-abstrakten Menschen gibt es so gar nicht. Das an sich absurde Problem ist selber erst konkret-historisch und logisch aus der Wert-Abspaltung und ihrer Geschichte zu erklären.
Hieraus folgt auch eine Perspektive der Kritik, ich möchte das nochmals betonen, die sich jenseits von kapitalistisch bestimmter Gleichheit, Differenz und Dekonstruktion, also auch jenseits existenzialistischer oder sonstiger Attitüden orientiert, um den Weg für ein radikal Anderes zu öffnen. Es gilt sowohl den Ideologien und Abstraktionen einer falschen Transzendenz-Vorstellung als auch denjenigen einer ebenso falschen Immanenz-Bestimmung zu misstrauen, die ihre eigenen Voraussetzungen nicht kennen - so sympathisch einen der schwarze Rollkragenpulli und die filterlosen Gauloises der französischen Existenzialisten auch anmuten mögen. Heute allerdings würde hier bloß die Gauloises-Existenz gegen eine Heideggerische Kräuterexistenz ausgetauscht. „Existenz“ gibt es für uns jedoch real nur innerhalb der fetischistischen Wert-Abspaltungs-Bedingungen und nicht als ontologische „Geworfenheit“, deren Begriff selbst schon immer primär mittelschichts-präfiguriert ist. Dass ein ahistorischer „Existenz“-Begriff immer wieder notwendig aufrecht erhalten werden müsse, ist ein Selbstmissverständnis des Bewusstseins dieser Verhältnisse, das scheinbar ontologischer Untermauerung bedarf.
Dabei ist der gerade nicht unmittelbar-empirisch zu erfassende Zusammenhang der Wert-Abspaltung als gesellschaftliches Grundprinzip hervorzuheben. Dies auch unter dem Eindruck, dass grundsätzliche theoretische Erwägungen heute sowohl hinsichtlich des gesellschaftlichen Fetischismus als auch hinsichtlich des asymmetrischen Geschlechterverhältnisses kaum mehr zu finden sind. Dass gerade Frauen nicht innerhalb der eigenen Sozietät versklavt wurden, wie de Beauvoir konstatiert, deutet auf die Relevanz des Körpers hin (vgl. De Beauvoir 2008, S. 15 ff.). Ein oberflächlicher Vergleich mit Juden und Schwarzen, wie de Beauvoir ihn vornimmt, mag zwar in gewisser Weise angebracht sein, trifft jedoch die Tiefendimension der Wert-Abspaltungsvergesellschaftung nicht. Die schiere „Existenz“ als äußerster Fluchtpunkt ist nichtssagend. Derartige (modisch gesprochen) „intersektionelle“ Fragestellungen können nur mit Bezug auf diese grundsätzliche Dimension und erst in diesem Zusammenhang auch in ihrer darin nicht aufgehenden Eigenbedeutung geklärt werden.
Dabei kann man sich jedoch offenbar in Zeiten postmoderner Diskurshegemonie die vermaledeite Frage nach dem Leib nicht mehr leisten; andererseits ist er in vielen Gender-Konzeptionen dennoch stumme vortheoretische Voraussetzung. Aus diesem Dilemma würden erst nicht-essentialistische und nicht-biologistische Reflexionen zu einer Sex-Gender-Dialektik herausführen, die allerdings nicht einfach in einer kulturalistischen Race-Class-Gender-Dimension aufgehen und deshalb auch keine Konjunktur haben. Die Kategorie „Geschlecht“ unterscheidet sich von derartigen Verständnissen radikal und kann nicht mit anderen Ungleichheitsformen „dekonstruktiv“ gleichgesetzt werden. Erst diese Einsicht würde eine Vermittlung der Geschlechterfrage mit letzteren als wirklich „anderen“ überhaupt erst möglich machen.
Wenn Lukács gefordert hat, gewissermaßen die „unmittelbare Unmittelbarkeit“ und die negativ-fetischistischen objektiven Strukturgesetze bzw. objektiven Aufbauprinzipien dialektisch vor einem materialistischen Marxschen Hintergrund zu vermitteln, so habe ich dies im Hinblick auf die historische Einschätzung de Beauvoirs im Kontext meiner Wert-Abspaltungs-Theorie in modifizierter Weise versucht. Um die damit bezeichneten Strukturen wirklich zu transzendieren, bedarf es der Einsicht in dieses konkret-historische Verhängnis anstatt existenzialistischer „Haltungen“, die in einem falschen Voluntarismus enden, der sich um die negative Objektivität nicht mehr schert.
Die Begrifflichkeit der Abspaltung bezeichnet die stumme Voraussetzung der Moderne als „Anderes“(hier spricht Simone de Beauvoir) der Warenproduktion und des Kapitalfetischs, und als solches stellt sie eben eine ganz andere grundsätzliche - gewissermaßen noch tiefer gelegene - Strukturebene dar, die über den Marxschen Fetischismusbegriff hinaus geht. Die Wert-Abspaltungsdimension umfasst so nicht bloß ein asymmetrisches Geschlechterverhältnis, sondern zielt auf die Gesellschaft als Ganzes. Transzendenz im Sinne der Wert-Abspaltungskritik ist daher etwas anderes als bei einer androzentrisch-universalistisch veranschlagten Wertkritik, aber auch etwas anderes als bei de Beauvoir. Insofern kann sich der Feminismus im Sinne der Thematisierung der Wert-Abspaltung als strukturangebendes Grundprinzip ein bloß plumpes Eingeständnis der Mittäterschaft, das letztlich verräterisch in die sachlich-neutrale Genderperspektive mündet, einfach nicht mehr leisten. Ebenso ist die Thematisierung dieses vorausgesetzten Prinzips (sofern sie um ihre Vermittlungen weiß) gerade notwendig, um der Relevanz der „anderen Anderen“ stattzugeben im Sinne einer eben nicht begriffs-hierarchisch minderbewerteten konkreten Totalität
Ich muss in diesem Sinne gegen alle Neuauflagen oder Variationen der abstrakt-ontologischen Existenzphilosophie darauf bestehen, wenn man will sogar selber aus individueller Notwehr im „existenzialistischen“ Sinne, dass ich als ein historisch gewordenes (weibliches) Individuum spreche und als eine Theoretikerin auf einer bestimmten historischen Vergesellschaftungsstufe, insofern auch in einer bestimmten „Situation“ im Verfall der fetischistischen und verselbständigten Wert-Abspaltungsvergesellschaftung. Dieser Bedingungszusammenhang hat mich erst hervorgebracht, auch wenn ich darin nicht aufgehe, sonst könnte ich nicht so sprechen. Aber die „Übersteigung“ dieser Bedingungen erfordert zunächst einmal überhaupt die Einsicht in diese komplizierte Subjekt-Objekt-Dialektik in der historischen Dimension, die nicht nur über mich als Individuum, sondern auch über eine imaginär veranschlagte abstrakte Menschheit in einem humanistischen Sinne hinausgeht.
Diese Subjekt-Objekt-Dialektik, die auch das in seinem So-Sein bornierte einzelne (Geschlechter-)Individuum konstituiert, muss in ihrer historischen Beschränktheit radikal-kritisch angegangen werden. Gerade in dieser Hinsicht ist man/frau heute auch „individuell“ sozusagen auf eine existenziell verlorene Position zurückgeworfen, die auch von einem kritischen Verständnis nicht ignoriert werden kann. Aber dieses Verständnis ist nicht durch Ignoranz der negativen Objektivität und ontologisch-existenzielle Kurzschlüsse zu gewinnen. Erst auf dieser widersprüchlichen Grundlage eines Willens zur Transzendierung, der um seine eigenen Bedingungen weiß, können wir überhaupt von einer wirklichen „Entscheidungsmöglichkeit“ reden, wenn diese nicht im Abstrakt-Unmittelbaren stecken bleiben soll. Dies gilt es sich insbesondere angesichts der heutigen, gerade auch subjektiv bedrohlichen objektiven Krisensituation auf die Fahnen zu schreiben.
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