Seit dem praktischen Scheitern des Keynesianismus an der so genannten Stagflation der 1970er Jahre beherrscht das neoklassische Dogma den Stellen- und Büchermarkt in der akademischen Volkswirtschaftslehre. Dabei handelt es sich um eine Harmonielehre des Marktes. Der solle doch gefälligst sich selbst überlassen bleiben, dann würde sich ein Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage einstellen, zum Wohle aller. In den einschlägigen Lehrbüchern wird die Wirklichkeit der kapitalistischen Wirtschaft nicht reflektiert, das Wort „Krise“ beispielsweise sucht man dort vergebens. Stattdessen werden die eigenen ideologischen Vorurteile in mathematische Modelle gegossen und diese der Wirklichkeit einfach übergestülpt. Mit der Neoklassik als herrschender Lehre hat das Fach Wirtschaftswissenschaft seinen Gegenstand letztlich aufgegeben und befindet sich streng genommen im Status einer wissenschaftlich verbrämten Ideologie. Spätestens mit dem Kriseneinbruch im Herbst 2008 ist das offensichtlich geworden. Allerdings: Wenn erkennbar wird, dass eine Ideologie mit der Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen ist, so verschwindet sie deswegen noch lange nicht aus den Köpfen. Die Neoklassik bildet hier keine Ausnahme. Zwar hat sie sich an den kapitalistischen Krisenerscheinungen inzwischen restlos blamiert. Das hindert aber ihre etablierten Vertreter nicht daran, der politischen Öffentlichkeit auch weiterhin die seit Jahrzehnten immer gleichen Ratschläge zu erteilen. Und die neoklassischen Scheinargumente füllen nach wie vor den Wirtschaftsteil vieler Tages- und Wochenzeitungen und bestimmen das Denken der politischen Klasse. Als ein Bestandteil dieses Lehrgebäudes hat sich eine ausschließlich mikroökonomische Sichtweise durchgesetzt, und zwar in doppelter Hinsicht: Zum einen gilt der betriebswirtschaftliche Standpunkt des Einzelunternehmens als der einzige überhaupt, unter dem „die Wirtschaft“ sinnvoll beurteilt werden könne. Zum anderen werden auch makroökonomische Einheiten metaphorisch wie Einzelpersonen behandelt, so etwa der Staat, der als „guter Hausvater“ oder „schwäbische Hausfrau“ jetzt möglichst radikal sparen müsse, weil die Familienmitglieder über ihre Verhältnisse gelebt hätten. Wie sehr eine solche Denkweise in die Irre führt, machen die derzeitigen Verwerfungen im Euro-Raum und die Maßnahmen zu ihrer Behebung deutlich. So wurde Griechenland eine Austeritäts-Medizin nach der Rezeptur „schwäbische Hausfrau“ verordnet, und ihre Einnahme wird von der Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfond und Europäischer Zentralbank streng überwacht. Für einen verschuldeten Einzelhaushalt kann es selbstverständlich sinnvoll sein, eine Zeitlang nur noch ranzuklotzen und Konsumverzicht zu leisten, um die Schulden loszuwerden. Aber dieses Modell ist auf eine Volkswirtschaft nicht übertragbar, weil eine Einschränkung des staatlichen und privaten Konsums die Verringerung der Produktion zur Folge hat und damit auf direktem Weg in die Depression führt. Genau das ist dann auch in Griechenland passiert: Das Bruttoinlandsprodukt brach 2010 um mehr als fünf Prozent ein, die Steuereinnahmen verringerten sich, und die Staatsverschuldung stieg stärker an als zuvor. Auf diesem Wege ist der griechische Staatsbankrott nur noch eine Frage der Zeit. Wie man hört, soll diese Erfolgsrezeptur demnächst auch Spanien und Italien verschrieben werden. Auch der wohlfeile Ratschlag, die verschuldeten Euro-Länder mögen sich doch bitte am deutschen Modell orientieren, geht von einer betriebswirtschaftlichen Sichtweise aus, die die wirkliche Situation völlig verfehlt. Die negative Handelsbilanz und damit verbundene höhere Verschuldung der südeuropäischen Länder ist schließlich nur die Kehrseite des deutschen Exportüberschusses, der sich überwiegend dem Handel innerhalb der EU verdankt. Ebenso gut könnte man den weniger erfolgreichen Vereinen der Fußball-Bundesliga die Empfehlung geben: Macht es doch alle so wie Bayern München, dann werden wir in der nächsten Saison alle deutscher Fußballmeister. Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, die neoklassische Lehre habe die tiefgehende Krise des kapitalistischen Weltsystems verursacht. Das wäre zu viel der Ehre. Das Problem liegt eher darin, dass diese Lehre keinen Begriff von der Krise hat, die in ihr schlicht nicht vorgesehen ist. Wer jetzt mitten in der Krise auf der Basis von neoklassischen Sichtweisen und Rezepten handelt, setzt sich daher Scheuklappen auf, durch die sogar noch das pragmatische „Fahren auf Sicht“ (Wolfgang Schäuble) unmöglich wird. Wenn wir schon in den Abgrund fahren, dann doch bitte sehenden Auges.
Claus Peter Ortlieb
erschienen in Ossietzky 24/2011
am 26.11.2011
am 26.11.2011
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