mardi 31 mai 2011

Kleine Reflexion des Re-Thinking Marx Kongresses


Über Themenverfehlungen, die Wichtigkeit der Unterscheidung von Fetisch und Ideologie und die „Dialektik der Politik“

Zwischen akademischer Konferenz und Event

Zuerst zum Setting: Die Konferenz wurde offensichtlich langfristig und professionell geplant. Dies äußerte sich nicht nur in der relativ reibungslosen Umsetzung, sondern auch bereits im „Line-Up“. Zahlreiche Berühmtheiten der akademischen Marx-Rezeption waren anwesend, etwa Wendy Brown, Etienne Balibar, Michael Heinrich, Alex Demirovic, Axel Honneth, Oliver Marchart und schließlich Moishe Postone; darüber hinaus auch einige dem Marxismus nahestehende Intellektuelle wie die Humangeographin Saskia Sassen und die post-koloniale Theoretikerin Christine Löw. Es war also nicht nur ein breites Spektrum der deutschen akademischen Linken anwesend, die Einladungspolitik ging bei weitem über die Sprachgrenzen hinaus. Besonders die englischsprachige Debatte und auch einige französische Positionen waren präsent, was durchaus zum Erkenntnisgewinn beitrug.
Die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi trat als „graue Eminenz“ der Konferenz auf und hat offensichtlich auch bei der inhaltlichen Gestaltung der Konferenz viel zu sagen gehabt. Deutlich tritt dies erst im Nachhinein aus dem Programm hervor, da natürlich davor viele Namen und Positionen noch nicht bekannt erscheinen. Die Ausrichtung war eine ideologietheoretische/kritische, Themen wie Entfremdung und die Frage einer „humanistischen“ Lesart Marxens stellten einen deutlichen Schwerpunkt dar und nicht zuletzt war die Fraktion der mehr oder weniger von Hegel inspirierten Positionen über das sonst Gewohnte hinaus präsent.
Um die Atmosphäre etwas einzufangen: anwesend war ein sehr großes und unterschiedlich zusammengesetztes Publikum, darunter auch viele junge und „bunte“ Menschen. Dies trug zu einer angenehmen Stimmung bei, die zwischen intellektuellem Austausch, Kaffee-Kränzchen im selbstverwalteten Studi-Cafe und alternativem Kulturprogramm zwischen den Veranstaltungen insgesamt doch recht abwechslungsreich war. Der Eindruck war zeitweise mehr der einer großen Zusammenkunft der theoretisch interessierten jungen Linken ohne politisch-agitatorische Zwangsbeglückungen ebenso wie ohne klare Fraktionierungen. Natürlich waren auch die üblichen Alt-Linken vereinzelt auszumachen, etwa wenn honorige DDR-Marxisten (sic) auftraten und ihre „Wortbeiträge“ (vulgo Co-Referate) tatkräftig zu Ende geklatscht werden mussten.
Trotz dieses positiven Gesamteindrucks war eine Sache klar (darin drückt sich dann vielleicht doch noch eine heimliche Reminiszenz an die DDR-Linke aus): eine Grenze zwischen der „engagierten Masse“ und der „akademischen Elite“ wurde ganz deutlich gezogen. Die Hierarchie zwischen den einfachen BesucherInnen und dem Kreis der Vortragenden aufrecht zu halten, stellte offensichtlich ein organisatorisches Desiderat dar – die vorderen Plätze waren für die (Re-)PräsentantInnen reserviert, sie bekamen in den – außergewöhnlich knapp gehaltenen – Fragerunden mit dem Publikum das Mikro fast ausschließlich in die Hand, und auch das individuelle Distinktionsbedürfnis wurde durch hübsche Namenschilder und nicht zuletzt einen „VIP Bereich“ für die „richtigen“ TeilnehmerInnen bedient.
Ohnehin war der/die Vorstellende meist von sich aus durch das (den Außentemperaturen inadäquate) formell-zugeknöpfte Aussehen vom Rest zu unterscheiden. In diesen Zusammenhang passt natürlich die strukturell männliche Markierung dieser akademischen Form – es waren deutlich mehr Männer auf den diversen Podien (ausgenommen natürlich die „abgespaltenen“ Theoriemomente Gender&Co) vertreten, und noch viel deutlicher artikulierte sich der „male bias“ in dem anscheinend für Frauen nicht sehr einladenden Gesprächsklima – während des ganzen Kongresses konnte ich (abseits der Gender-Veranstaltung) eine Wortmeldung von einer Frau verzeichnen. Dies schien irgendwie niemanden zu stören, weder die weiblichen Referentinnen, noch die durchaus paritätisch anwesenden Frauen unter den Zuhörenden. Die meisten der Männer schienen mir ohnehin in distinkten Zirkeln anzutreffen zu sein, was wohl nicht nur mit der thematischen Segmentierung der Interessensschwerpunkte zusammenhängt, sondern recht gut die Struktur informeller akademischer Männerbünde widerspiegelt. Dies ist aber wohl nicht weiter verwunderlich, nicht zuletzt gibt es Ähnliches ja auch in nicht-akademischer kritischer Theoriebildung.

Zum Einstieg und den Themenverfehlungen

Wiewohl auf eine inhaltlich anspruchsvolle Debatte Wert gelegt wurde, gab es offensichtlich auch einige Themenverfehlungen, die ich gleich am Anfang abhandeln möchte. Am prominentesten war diese bei Saskia Sassen vorzufinden, die in ihrem „Dialog mit Marx“ nicht nur die Äußerlichkeit der eigenen Position von vorneherein akzentuierte, sondern auch bewies, dass sie tatsächlich sehr jenseits der Debatten ist – ihre Kritik an Marx traf dessen „Politik-Verständnis“ bzw. den Marxschen „Internationalismus“. In einer einzigartig einseitigen Lektüre Marxens – die Basis ihrer Auseinandersetzung stellte nach eigenen Angaben das „Kommunistische Manifest“ dar – schlitterte sie gänzlich an dem, was eine produktive Marx-Rezeption sein könnte, vorbei und beschränkte sich im Wesentlichen auf die rein phänomenologische und statische Feststellung, dass der Marx des Manifests das Politische, nämlich den National-Staat und seine Maßstäbe, nicht so verstand wie Sassen, welche in der heutigen Welt die Grenzen des Nationalen schwinden sieht. Unabhängig von dem analytischen Befund Sasssens hatte ihr Vortrag wenig mit Marx und noch weniger mit von Marx inspirierter Theorie zu tun.
Ähnlich enttäuschend war für mich nur noch der Beitrag Étienne Balibars. Sein Vortrag war wohl sicherlich von Marx inspiriert und verfehlte insofern das Thema (vielleicht) nicht. Es mochte mir jedoch – trotz großer Aufmerksamkeit und eifrigen Mitschreibens – nicht gelingen, den roten Faden zu entdecken bzw. die Quintessenz des Gesagten zu durchdringen. Dies mag an meiner mangelnden intellektuellen Fähigkeit liegen (rein sprachlich konnte ich folgen); jedenfalls aber blieb bei mir nur der Eindruck eines recht verwirrten Sammelsuriums aller möglichen angerissenen Aspekte rund um das Feld „Staat-Markt-Klasse“. Was einzig hängen blieb, war für mich das klare Bekenntnis zur Aktualität des Klassenthemas. Im Gang durch mannigfaltige post-politische, staatstheoretische und gar krisenphänomenologische Aspekte wollte Balibar die besondere Rolle des Klassenkampfes irgendwie doch noch retten. Trotz performativer Höchstleistung bei der Bedienung des Habitus-Typus „alter, eigensinniger und freundlicher Theoretiker“, die durchaus auch einige Sympathiepunkte einbringen mag – Balibar zeigte sich mit der „kämpfenden Jugend“ in Spanien solidarisch, wollte seinen Vortrag gern dort übertragen sehen – war der inhaltliche Ertrag für mich recht mager.

(Keine) Überraschungen mit und ohne Gender

Auch die Gender-Frage selbst war natürlich mit einem eigenen Panel vertreten (umso weniger durchzog sie die allgemeine Diskussion). Die Veranstaltung erwies sich jedoch als weniger neu und apannend als meinerseits ursprünglich erhofft – jedenfalls wurde in keiner Weise die Höhe der marxo-feministischen Theoriebildung erreicht, welche vor dem „postmodern turn“ anzutreffen war.
Den Einstieg machte die englische Professorin Stevi Jackson. Sie vertritt nach eigener Aussage einen „materialistischen Feminismus“, der sich in Opposition zu „psychoanalytischen Differenz-Feminismen“ verortet, welche Jackson heute auf dem Vormarsch sieht. Der Vortrag bestand dann auch im Wesentlichen aus einer Rekapitulation des Entwicklungsweges jenes „materialistischen Feminismus“, der sich gewissermaßen zwischen marxistischen Feminismen und Differenzfeminismen positioniert. Stichwortgeberinnen sind neben Simone de Beauvoir v.a. die französische Schule um Monique Wittig und Christine Delphy. Die Position könnte ungefähr so zusammengefasst werden: Die Marxsche Werttheorie (etwa die Debatte um den Wert der Hausarbeit) interessiert nicht, weil zu „technisch“; es besteht folglich eine Distanz zu explizit marxistischen Feminismen; Fragen des allgemeinen Gesellschaftlichen interessieren weniger, Momente (politischer) Herrschafts- und Ungleichheitsachsen jedoch schon; die Abgrenzung vom postmodernen/poststrukturalistischen Feminismus wird gesucht, jedoch ergeben sich auch an einigen Punkten Schnittstellen; insbesondere Fragen der Bedeutung(-skonstruktion) und der Subjektivität sind von Relevanz. Diese Stellung einer doppelten Abgrenzung gegenüber marxistischen und differenzfeministischen Positionen war mir so nicht bekannt und ist in gewisser Weise instruktiv, v.a. angesichts der sarkastischen Nebenbemerkung Jacksons, dass zahlreiche der überzeugtesten Vertreterinnen einer „technischen“, marxistischen Position nach den Debatten der 1970er mit fliegenden Fahnen zum Poststrukturalismus wechselten. Interessant sind dabei v.a. die subjekttheoretischen Momente des präsentierten „materialistischen Feminismus“. Er hebt in radikaler Weise die soziale Konstruktion der Geschlechterbinarität hervor, ebenso wie die historische Relativität der Unterscheidung zwischen Homo- und Heterosexualität. Gleichermaßen wird aber auch die Materialität dieser sozialen Verhältnisse herausgestrichen, die – wie auch Klassenrelationen – eine starke Verharrungstendenz aufweisen. Über die gesellschaftstheoretische Begründung jener Beharrlichkeit sagte Jackson zwar erwartungsgemäß nichts, dennoch ist die Insistenz auf die hierarchische und materiale Struktur der sozialen Konstruktion von Geschlechtlichkeit, ebenso wie die Verbindung dieser mit der Dimension der Heterogeschlechtlichkeit durchaus erkenntisbringend. Anders als poststrukturalistische Ansätze, die sich auf die Tatsache der Differenz selbst und die bloße „Heteronormativität“ kaprizieren, wird so eine realistische Perspektive auf Gesellschaft ermöglicht, die Bedeutung, Subjektivität und das „Alltagsleben“ nicht auf das rein aktuale Performative reduziert. Auch wenn größere ideologiekritische Entwürfe wie etwa Wittigs Kritik eines „heterosexuellen Kontrakts“ letztlich begrenzte Heuristiken darstellen und nochmals gesellschaftstheoretisch geerdet werden müssten, stellen sie zweifellos eine gute Basis nicht nur für kritisch-dialektische Weiterentwicklungen, sondern auch eine Kritik poststrukturalistischer Positionen dar: denn wie Jackson glaubhaft machen konnte, basiert der Gender-Konstruktivismus Judith Butlers nicht nur stark auf einer Rezeption Wittigs und des französischen materialistischen Feminismus; Butlers Lesart ist selbst eine sehr einseitige und dekontextualisierte, was wiederum der auf sie aufbauenden Theoriebildung als ganzer vorgeworfen werden kann. Etwas lau war dann jedoch die Moral von der Geschicht – mit all ihrer materialistischen Kritik kommt Stevi Jackson schlussendlich doch wieder beim „Common Sense“ der neueren (halbwegs bodenständigen) feministischen Debatte an – es bedürfte einer „intersektionalen Analyse“, die sich zwar nicht nur auf Identitäten beschränken, sondern auch materielle Herrschaftsachsen in den Blick nehmen sollte; aber schlussendlich doch froh darüber sein kann, den Anspruch „totalisierender“ Großtheorien nicht mehr gerecht werden zu müssen. Paradoxerweise sollen also die Verwobenheiten von Herrschaftsmomenten materialistisch untersucht, dabei aber nicht „Alles“ erklärt werden. Das Resultat – der regelrechte Stolz auf Eklektizismus und „pragmatische“ Theoriebildung – kann leztlich also wenig überzeugen.
Mit Terrell Carver – dem einzig Mann auf dem Podium – ging es jedoch nicht unbedingt vielversprechender weiter. Carver ist offensichtlich ein passionierter Komiker, der sich gerne den Touch der Coolness eines verruchten Abenteurers gibt – sein Referatsduktus entsprach dem jedenfalls und ein solches Auftreten war ob der überwiegend weiblichen ZuhörerInnenschaft etwas peinlich. Auch die präsentierten Resultate einer „gendered Critique of Political Economy“ waren wenig mehr als amüsante Anekdoten. Der Bristoler Professor, der einschlägigerweise auf Hermeneutik spezialisiert ist, versuchte Marx so darzustellen, wie er „wirklich war“ und zwar „als Person“. Abgesehen von der etwas gewagten These, das Marx keineswegs Philosoph oder gar ökonomischen Theoretiker, sondern einzig und alleine „politisch motivierter Journalist“ war, gab der Vortrag wenig, was über ein Wiederkäuen von Altbackenem (die Reproduktionsperspektive kommt bei Marx nicht vor) und Absurdem („Aspekte wie die Sklaverei in der Familie und die Unterdrückung der Frau wurden von Marx ja doch, an einer Stelle auf Seite so und so im Kapital, erwähnt – zumindest ließe sich das so interpretieren…“) hinausginge. Im Ganzen konnte sich Carver nicht entscheiden, ob er Marx nun verteidigen oder anklagen wollte. Einzig seine über das eigentliche Thema hinausweisenden und anscheinend eigenen Arbeiten entnommenen sporadischen Bemerkungen über die „Männlichkeit der Ökonomie“ und damit einhergehende Effekte tönten potentiell interessant – für eine genauere Einschätzung waren sie jedoch tatsächlich zu dünn gesät.
Nach vollständiger
Vorabveröffentlichung aus dem in Kürze erscheinenden EXIT!-Heft 8

Elmar Flatschart


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