Von der Abspaltung zur negativen Integration der Kunst
Die Trennung von Leben und Kunst ist ein altes Thema der Moderne. Alle Künstler, die einer Wahrheit zum Ausdruck verhelfen wollen und die sich existentiell in ihren Schöpfungen verbrauchen, haben immer wieder an dieser Trennung gelitten. Ob sie Schönheit bringt oder die Ästhetik des Häßlichen zeigt, ob sie radikale Kritik übt oder den Formenreichtum der Natur neu zu entdecken sucht, ob sie sich realistisch oder phantastisch orientiert: Stets bleibt die Kunst wie durch eine gläserne, aber undurchdringliche Wand von der Gesellschaft getrennt. Ihre Hervorbringungen werden entweder nicht beachtet oder sie sind weltberühmt als schon von Geburt an tote und museale Gegenstände. Der Künstler erscheint als eine Figur von geradezu antiker Tragik: Wie vor Tantalus ewig das Wasser und die Früchte zurückweichen, so weicht vor ihm das Leben zurück; wie König Midas verhungern mußte, weil sich alle Gegenstände unter seiner Berührung in Gold verwandelten, so muß der Künstler als gesellschaftliches Wesen verhungern, weil sich unter seiner Berührung alle Gegenstände in pure Exponate verwandeln; und wie Sisyphos wälzt er seinen Stein stets vergeblich - sein Werk bleibt unvermittelt mit der Welt.
Alle Versuche der Kunst, aus ihrem gläsernen Ghetto auszubrechen, sind gescheitert. In Fabriken aufgestellte Plastiken und Gemälde an den Wänden von Büros blieben Fremdkörper; literarische Lesungen in Kirchen oder Schulen kamen nie über den Charakter von Pflichtveranstaltungen hinaus. Als die Dadaisten aus Verzweiflung zum Mittel der Provokation griffen und rostige Eisenrohre oder Klosettschüsseln in die heiligen Hallen der Kunst schleppten, um die Bourgeoisie zu verhöhnen, wurde dieses Angebot mit tierischem Ernst als Kunstgegenständlichkeit angenommen und katalogisiert wie die Skulpturen von Michelangelo oder die Bilder von Picasso. Die tautologische Definition lautet: Kunst ist alles, was die Gesellschaft a priori in einem getrennten Reservat namens "Kunst" wahrnimmt und was in dieser seiner Kunstgegenständlichkeit ohne Rücksicht auf den Inhalt gesammelt werden kann wie Briefmarken oder aufgespießte Käfer. Egal was die Kunst selber will und wie sie es darstellt, sie ist damit immer schon entschärft und verharmlost. Der Künstler ist für die kapitalistischen Eliten nicht einmal ein Hofnarr, sondern bestenfalls ein spezieller Lieferant wie der Weinhändler oder der Konditor. Einen Gebrauchtwagen würde man nicht von ihm kaufen und als Schwiegersohn wäre er unmöglich. Das ist jedenfalls sein Status in der klassischen Moderne.
Ihre eigene Existenzweise und deren Kategorien hat die moderne Gesellschaft schon immer als überhistorische und allgemein-menschliche gesehen. Wenn etwas faul und eigentlich unerträglich ist an diesem System, dann soll es sich nie um eine historische und durch Kritik zu überwindende Problemlage handeln, sondern immer um eine unaufhebbare Bedingung der Existenz schlechthin, mit der die Menschheit nun einmal bedauerlicherweise leben muß. Durch die Brille dieser Ontologisierung nimmt die Moderne auch das Dilemma der Getrenntheit von Kunst und Leben wahr. Es wird so getan, als wäre in der griechischen Antike der Künstler ganz genauso wie heute ein Verkäufer seiner Möglichkeiten gewesen und als hätten schon die alten Ägypter ihre Götterbilder in Galerien und Museen ausgestellt oder auf Auktionen mit Preisschildern versehen.
Aber die alten Zivilisationen hatten in unserem Sinne keine "Kunst" und auch keine "Kultur". Denn die moderne Struktur von getrennten und gegeneinander verselbständigten Sphären, die auch unsere Sprache und unser Denken bestimmt, war allen früheren Gesellschaften vollkommen fremd. Welche menschlichen Defizite, Probleme und soziale Herrschaftsverhältnisse sie auch immer hatten, sie zerlegten ihr Dasein nicht in abgeteilte Funktionsbereiche. Die moderne Systemtheorie betrachtet dies als einen Mangel an "Ausdifferenzierung", womit sie einen Gradmesser von Primitivität unterstellt: Je integrierter eine Gesellschaft ist, desto primitiver ist sie auch; und je "ausdifferenzierter" umgekehrt eine Gesellschaft ist, desto "entwickelter" ist sie und desto mehr "Chancen" bietet sie - so die Behauptung des spätbürgerlichen Systemdenkens. Wie schon immer seit der Aufklärung erscheint die kapitalistische Moderne als die Krönung der Geschichte, obwohl es etwas Erbärmliches hat, die höchste und nicht mehr überbietbare Errungenschaft gesellschaftlicher Evolution ausgerechnet darin zu sehen, daß der funktionalistisch reduzierte Mensch nur noch einen Schnittpunkt von systemischen Strukturen darstellt.
Aber die vormodernen Gesellschaften waren in Wirklichkeit nicht primitiv, sondern durchaus hochdifferenziert; nur entsprach diese Art der Differenzierung nicht dem modernen Begriff davon. Die alten, vorwiegend agrarischen Sozietäten hatten keine Kultur, sondern sie waren eine Kultur. In unserem wissenschaftlichen Sprachgebrauch kommt das sogar zum Ausdruck, wenn auch meistens unreflektiert: Wir sprechen ohne weiteres von der altägyptischen, der mesopotamischen, der antiken "Kultur" usw. und meinen damit in der Regel sowohl die speziellen Artefakte und künstlerischen Darstellungen aus Bildhauerei, Malerei, Literatur etc. als auch andererseits die jeweilige Gesellschaft als Ganzes mitsamt ihrer sozialen Struktur. Wenn hingegen von "moderner Kultur" die Rede ist, dann meinen wir damit immer nur jenen besonderen Aspekt der Ausdrucksformen und niemals das ganze gesellschaftliche System. Automatisch und unbewußt "wissen" wir also, daß Kultur früher einmal das Ganze war und nicht eine funktionell abgetrennte Sphäre für die sonntägliche museale Erbauung des geldverdienenden Menschen.
Tatsächlich bedeutet ja das lateinische Wort "cultus", auf das unser Kulturbegriff zurückgeht, sowohl "Anpflanzung" und "Ackerbau" als auch "Gottesdienst", "Lebensweise", "Gesellschaftlichkeit", "Bildung" und sogar "Kleidung" (für bestimmte Anläße). Diese vielschichtige Begrifflichkeit verweist auf den integrierten Charakter der alten Agrargesellschaften. Die differenzierten Inhalte und Formen sowohl des "Stoffwechsels mit der Natur" (Karl Marx) als auch der sozialen Beziehungen und der Ästhetik fielen nicht als "Subsysteme" mit jeweils "eigener Logik" auseinander, sondern sie waren immer der Ausdruck einer einzigen und kohärenten kulturellen Daseinsweise. In modernen terms muß sich die Beschreibung dieser kulturellen Existenz verwirrend anhören: Die Produktion war ästhetisch, die Ästhetik religiös, die Religion politisch, die Politik kulturell, die Kultur sozial usw. Mit anderen Worten: Die für uns distinkten gesellschaftlichen Attribute waren miteinander verschränkt, jeder Bereich des Lebens war in jedem anderen gewissermaßen mitenthalten.
Man könnte vielleicht versucht sein, von einer religiösen Konstitution dieser agrarischen Kulturen zu sprechen, weil die Religion anscheinend das stärkste integrative Moment der "Gesellschaft als Kultur" darstellte. Bekanntlich sind nicht nur alle Arten des künstlerischen Handwerks, sondern auch das Theater und die sportlichen Wettkämpfe aus kultischen Handlungen hervorgegangen; genauer gesagt: sie waren kultische Handlungen besonderer Art. Aber auch die ganz gewöhnlichen Verrichtungen des Alltags hatten grundsätzlich kultischen Charakter; sogar Witz und Ironie waren kultisch eingebunden. Dennoch wäre es verfehlt, "die Religion" als das systemisch bestimmende Moment solcher Gesellschaften herauszuheben, denn dabei denken wir ja schon wieder unseren funktionellen Begriff getrennter Sphären mit. Auch die Religion war aber keine Religion im modernen Sinne, kein bloßer "Glaube", keine beschränkte Gelegenheit für transzendente Gedanken und schon gar keine "Privatangelegenheit".
Wir dürfen uns deshalb den religiösen Charakter der alten Kulturen freilich nicht einfach als einengendes, irrationales Zwangsverhältnis vorstellen. Das Religiöse war gleichzeitig das Öffentliche, die sogenannte Politik, die Form der Debatte. Nicht umsonst hat das lateinische Wort "privatus" eine eher negative, abschätzige Bedeutung, die für uns noch deutlicher wird beim entsprechenden altgriechischen Begriff: dort ist der nicht alltäglich und selbstverständlich am öffentlichen Leben teilnehmende "privatus" der Idiot. Wenn aber das Religiöse gleichzeitig die Form des Öffentlichen und umfassend alltäglich ist, dann muß dies nicht bedeuten, daß sich darin die Beschränktheit dieser Gesellschaft zeigt, wie es die apologetische Ideologie der modernen Selbstlegitimation behauptet. Genausogut könnte umgekehrt gesagt werden, daß eine solche Kultur-Gesellschaft viel mehr Öffentlichkeit und Debatte hatte als das moderne System. Wie wir es auch drehen und wenden, wir kommen mit unserem modernen Selbstverständnis dem Dasein einer kulturell integrierten Gesellschaft nicht bei. Wir haben keine Begriffe dafür.
Diese moderne Blindheit für den Charakter vormoderner Verhältnisse hat noch ein weiteres großes Mißverständnis erzeugt. Im Zentrum dessen, was wir "Religion" nennen, steht im Grunde genommen in allen Kulturen das Problem der menschlichen Sterblichkeit und des Todes als Vorgang, Ereignis und "Lebensziel". Zusammen mit der Religion hat die Moderne auch den Tod in eine besondere funktionelle Sphäre verbannt und ihn damit - ähnlich wie die Kunst - vom Leben getrennt. Auf diese Weise führte die moderne Säkularisierung der Gesellschaft nicht etwa dazu, mit dem Tod anders und womöglich reflektierter umzugehen, sondern ihn zu verdrängen und zu ignorieren. Das, was die Religion in den alten Gesellschaften bedeutet hatte, wurde ja nicht etwa überwunden und positiv aufgehoben, sondern lediglich als irrationaler Rest für den Privatsinn des abstrakten Einzelnen funktionell reduziert. Im Hinblick auf die leibliche Sterblichkeit ging die Moderne sogar noch weiter: Wie die alten und für die kapitalistische Reproduktion "unbrauchbar" gewordenen Menschen sogar ihren eigenen Kindern als bloße "Altlast" erscheinen und in Anstalten weggesperrt werden, die vom normalen Leben abgetrennt sind, so werden auch die Toten wie Müll und industrieller Schrott "entsorgt".
Nachdem die Moderne den Tod verdrängt hatte, konnte sie die frühere Integration von Leben und Tod nur noch als erschreckende "Todesbezogenheit" begreifen. Daß die alten Ägypter so großen Wert auf ihre Gräber und auf das Einbalsamieren der Toten legten, wird ihnen gewöhnlich als finsterer Todeskult ausgelegt, als wären sie mit nichts anderem beschäftigt gewesen. Erst recht angewidert zeigt sich der moderne Mensch von der weit verbreiteten Sitte der Jungsteinzeit, die Gebeine der Toten mitten im Haus unter der Feuerstelle zu begraben. In Wirklichkeit müssen alle diese Menschen äußerst lebenslustig gewesen sein, wie die Altertumswissenschaften heute in vieler Hinsicht belegen können. Die selbstverständliche Integration des Todes in den Alltag erscheint uns nur als fremdartig, weil das Problem unserer eigenen Sterblichkeit auf einen im gewöhnlichen Leben unsichtbaren Ort "ausgelagert" worden ist. Diverse Kulturkritiker haben diese Trennung von Leben und Tod ebenso wie die Trennung von Kunst und Leben in der Geschichte der Modernisierung immer wieder zum quälenden Thema gemacht, ohne daß jedoch die zugrunde liegende gesellschaftliche Struktur dabei jemals radikal kritisiert worden wäre.
In einer "Gesellschaft als Kultur", die sogar den Tod zu integrieren imstande war, mußte notwendigerweise auch die "Kunst" immer schon Bestandteil des alltäglichen Lebens sein und war daher völlig undenkbar als das Exponat einer sterilisierten und toten Sphäre "hinter Glas". Aber eben deswegen war sie auch keine Kunst als Kunst, sondern ein bestimmtes Moment in einem integrierten gesellschaftlichen Zusammenhang. Der "Künstler" konnte daher nur im Sinne einer technischen Fähigkeit Künstler und anerkannt sein, nicht aber als sozialer Repräsentant "der" Kunst. Das Problem der funktionalen Trennungen, das die Moderne so beschäftigt, ist zusammen mit ihr überhaupt erst entstanden und hätte vorher nicht einmal formuliert werden können. Es fragt sich also, woher diese systemische "Ausdifferenzierung" eigentlich kommt.
Der Prozeß der Modernisierung hat die Gesellschaft keineswegs gleichmäßig und gleichwertig aufgegliedert. Vielmehr wurde ein bestimmter Aspekt der menschlichen Reproduktion, nämlich die sogenannte Ökonomie, von allen übrigen Aspekten und vom Leben überhaupt abgespalten. Ebensowenig wie von einer Kunst oder Religion kann daher für die alten agrarischen Zivilisationen von einer Ökonomie in unserem Sinne gesprochen werden, obwohl der Begriff aus der Antike stammt. War aber die "Oikonomia" im antiken Griechenland als Hauswirtschaft wie bei allen vormodernen Zivilisationen im integrierten kulturellen Zusammenhang eine sachliche Voraussetzung und ein Mittel für kultische und damit soziale oder ästhetische Zwecke gewesen, so entwickelte sie sich in der Moderne zu einem absurden Selbstzweck und zum zentralen Inhalt der Gesellschaft: Das Geld wurde als Kapital auf sich selbst rückgekoppelt und damit zum blinden "automatischen Subjekt" (Karl Marx), das allen menschlichen und kulturellen Zwecken gespenstisch vorausgesetzt ist.
Indem diese "Verwertung des Werts" (Karl Marx) oder abstrakte betriebswirtschaftliche Gewinnmaximierung sich als prozessierender Selbstzweck vom Leben abspaltete, entstand erstmals eine getrennte, verselbständigte "Funktionssphäre" wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft, der sich zur Herrschaft und zum Zentrum aufzuschwingen begann. Und erst das Dasein dieses abgespaltenen und gleichzeitig dominierenden Sektors ließ auch alle anderen, von der kapitalistischen Ökonomie noch übriggelassenen Aspekte der gesellschaftlichen Reproduktion als getrennte "Subsysteme" erscheinen, die jedoch ausnahmslos bloß sekundäre Bedeutung haben und dem vorausgesetzten ökonomischen Selbstzweck untergeordnet sind.
Unter dem Diktat der verselbständigten Ökonomie mutierte die produktive Tätigkeit zur abstrakten "Arbeit" in einem entfremdeten, vom Leben getrennten Funktionsraum, der erst sekundär und unter dem Zwang seiner eigenen unbeherrschbaren "Systemgesetzlichkeit" durch die ebenfalls getrennte Sondersphäre der Politik reguliert wird. Eine solche von der kulturell integrierten Gesellschaft abgespaltene "Politik" mußte daher den vormodernen Zivilisationen ebenso unbekannt sein wie die "herausgelöste Ökonomie" (Karl Polanyi) des kapitalistischen Selbstzwecks und der dazugehörige positive Begriff der abstrakten "Arbeit" außerhalb eines integrierten Lebenszusammenhangs. Die moderne Politik und die dazugehörigen Institutionen von Staat und Recht können nicht mit den scheinbar entsprechenden vormodernen Institutionen gleichgesetzt werden, die ebensowenig wie die "Religion" den Charakter getrennter funktioneller Sektoren hatten. Erst im Prozeß der modernen gesellschaftlichen Desintegration durch die "herausgelöste Ökonomie" entstanden Politik, Staat und Recht in unserem Sinne als komplementäre "Subsysteme" zweiter Ordnung und damit als erste Diener (Minister!) des stummen Apriori kapitalistischer Ökonomie.
Wenn der zentrale Inhalt und Zweck der Gesellschaft ein abgespaltener Selbstzweck geworden ist, dann muß notwendigerweise das Leben zu einem bloßen Rest herabsinken. Die Äußerungen des Lebens jenseits der systemischen Spaltungen und komplementären Funktionssphären von Markt und Staat, Ökonomie und Politik, Konkurrenz und Recht wurden zum Restmüll der "Freizeit" degradiert; und irgendwo in Bezug auf diesen diffusen Rest ist nicht nur die Religion, sondern auch die Kunst und Kultur als besondere Sphäre angesiedelt. Alle Dinge, die den Menschen einmal entscheidend wichtig waren, alle existentiellen Fragen, alle damit verbundenen ästhetischen Zwecke und Ausdrucksformen sind zu diesem bedeutungslosen "Rest" geworden und ihre Repräsentanten müssen um die Brosamen raufen, die vom Tisch des monströsen Selbstzwecks abfallen.
Besonders absurd ist dabei die Lage der Kunst und des Ästhetischen überhaupt. Obwohl jede Erscheinung des Lebens an sich für den Menschen immer ein ästhetisches Moment besitzt, hat der Kapitalismus diese elementare Tatsache negiert und die Ästhetik in einen getrennten Raum abgespalten wie alle anderen Momente auch. Die "Arbeit" ist nicht ästhetisch, die Ökonomie ist nicht ästhetisch, die Politik ist nicht ästhetisch, nur die Ästhetik ist ästhetisch. Es ist, als würde die Ästhetik der Dinge eine abstraktifizierte, gespenstische Eigenexistenz neben den Dingen führen; ganz wie die Gesellschaftlichkeit der Produkte in der zum Selbstzweck gewordenen abstrakten Form des Geldes eine abstraktifizierte Sonderexistenz neben den Produkten führt und die abstrakte formale Logik als das "Geld des Geistes" (Marx) verselbständigt neben die konkrete Logik der wirklichen Zusammenhänge tritt.
Das gläserne Gefängnis des Künstlers besteht gerade in dieser strukturellen Abspaltung des Ästhetischen. Die Kunst tigert in diesem Käfig hilflos hin und her; sie ist nicht mehr die künstlerische Form eines gesellschaftlichen Inhalts, sondern abgespaltene "Formheit" - entweder Form ohne Inhalt oder Inhalt als bloße Form. Die Kunst muß also den Selbstzweck des Kapitals nachäffen, das sich als abstrakte und auf sich selbst rückgekoppelte Form (Geld) am liebsten von jedem materiellen Inhalt emanzipieren möchte, ohne diese Absurdität jemals realisieren zu können. "L'art pour l'art" ist nur der Gipfelpunkt der Kunst als unfreiwillige Karikatur des Kapitals, ohne das Dilemma auf dem Boden des kapitalistischen Systems lösen zu können.
Ist sie aber durch ihre Not zum wahnhaft selbstverliebten Selbstzweck geworden, so kann die Kunst in ihrer unaufgehobenen Getrenntheit eine gesellschaftliche Hybris hervorbringen: Statt sich selbst als das Produkt eines Systems der Abspaltungen zu begreifen und die radikale Kritik dieser destruktiven Selbstzweck-Struktur zu mobilisieren, beginnt die Kunst die Spaltung selbst und deren funktionalistische Ausgeburten zu "ästhetisieren". Nicht nur ihr eigenes Dilemma wird dabei zum ästhetischen Sujet, sondern die schreiende kapitalistische Schizophrenie insgesamt. Wenn die kapitalistische Struktur aber nicht kritisiert, sondern ästhetisiert wird, dann können auch von Granaten zerfetzte Leiber, vergewaltigte Frauen, verhungernde Kinder und die Obszönität der Macht als bloß ästhetische Gegenstände erscheinen. Die abgespaltene Ästhetik kehrt nicht in die gesellschaftlichen Inhalte zurück, sondern beleuchtet sie nur in zynischer Reflexion. Eine "Ästhetisierung der Politik" innerhalb des unaufgehobenen kapitalistischen Systems führt so nicht in die Emanzipation, sondern direkt in die Barbarei. Die ästhetisch inszenierte Politik war das Erfolgsgeheimnis des Faschismus und Hitler der Prototyp des Künstlers als Politiker, der die getrennten Sphären nicht reintegriert, sondern ihre Desintegration zum blutigen Gesamtkunstwerk stilisiert.
Die prekäre Situation der Kunst in der kapitalistischen Struktur der Spaltungen hat auch eine geschlechtliche Seite. Damit sich die "herausgelöste Ökonomie" des kapitalistischen Selbstzwecks überhaupt etablieren und die moderne Sphärentrennung hervorbringen konnte, war eine elementare Voraussetzung nötig: Alles, was in diesem System der Spaltungen nicht aufging, mußte seinerseits primär abgespalten werden. Und das waren jene Momente des einstmals kulturell integrierten Lebens, die auf die moderne Frau abgewälzt wurden: Familie, "Hausarbeit", Kinderbetreuung, Pflege, "Liebe" usw. samt den dazugehörigen Eigenschaften, zu denen auch eine angebliche besondere Empfänglichkeit für das Ästhetische gehört: Die Frau als das "Naturschöne" schmückt sich und das Heim ihrer Lieben. Dieser soziale Raum, der nicht vollständig von den kapitalistischen Strukturen aufgesaugt werden konnte, aber dennoch für die menschliche Reproduktion notwendig blieb, trat als abgetrennte Privatheit neuer Art in Gegensatz zur gesamten gesellschaftlichen Struktur des Kapitals und der darin enthaltenen Binnen-Spaltungen. Es entstand also eine paradoxe "Abspaltung vom Gesamtsystem der Abspaltungen" (Roswitha Scholz), die dessen "dunkle Rückseite" bildet und als "weiblich" konnotiert ist, während umgekehrt das offizielle System als Ganzes "männlich" besetzt und dominiert wird.
Diese aus der feministischen Kritik hervorgewachsene Erkenntnis der elementaren und primären geschlechtlichen Abspaltung verweist auf ein sonderbares geschlechtliches Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, das auch die abgespaltene ästhetische Sphäre von Kunst und Kultur betrifft. In den kulturell integrierten vormodernen Gesellschaften gab es zwar durchaus starke patriarchalische Momente, aber nicht in der "ausdifferenzierten" und zugespitzten modernen Form. Die kulturell integrierte Differenziertheit, für die wir keine Begriffe mehr besitzen, hat auch "Privatheit" und "Öffentlichkeit" nicht in unserem Sinne getrennt. In modernen Begriffen gesprochen war vieles öffentlich, was heute als privat gilt - und umgekehrt; soweit die Öffentlichkeit "männlich" war, blieb sie begrenzt oder es gab "männliche" und "weibliche" Öffentlichkeiten gleichzeitig und parallel im kulturellen Kontext.
Die paradoxen Formen der Desintegration auf der Basis der "herausgelösten Ökonomie" aber haben Öffentlichkeit und Privatheit auf eine doppelte Weise geschlechtlich getrennt. Einerseits gibt es den intimen Raum der Privatheit, in dem "die Frau" das sogenannte schöne Geschlecht und gleichzeitig zuständig ist für die Wärme des Nests, die Bequemlichkeit des Herrn, die liebevolle Zuwendung usw. - und gerade deswegen als inferior und "geistesschwach" gilt. Dieser inferioren Privatheit gegenüber erscheint das gesamte System des Kapitalismus mit der "herausgelösten Ökonomie" an der Spitze als die "männliche" Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit und als die eigentliche Gesellschaft. Andererseits gibt es aber auch innerhalb dieser offiziellen "männlichen" Struktur eine zweite Binnen-Spaltung von Privatheit und Öffentlichkeit: Absurderweise erscheint hier die Aktivität für den subjektlosen Selbstzweck des Systems als die "männliche" Privatheit des kapitalistischen Interessen-Subjekts, des "homo öconomicus" und Geldverdieners, während die ebenfalls "männlich" besetzte komplementäre Sphäre der Politik als Öffentlichkeit definiert ist. Und die abgespaltene Sphäre der Ästhetik oder Kunst und Kultur stellt nur einen Wurmfortsatz dieser Binnen-Öffentlichkeit innerhalb des "männlichen" kapitalistischen Pseudo-Universums dar.
Deshalb ist "der Künstler" im Prinzip ein männliches Wesen innerhalb der kapitalistischen Öffentlichkeit, wenn auch an einem besonders prekären Ort. Zwar gibt es auch Künstlerinnen, ebenso wie Politikerinnen, Unternehmerinnen, Wissenschaftlerinnen usw. - aber erstens bloß als Ausnahmen, von denen die soziologische Regel bestätigt wird; und zweitens immer in Adaption an die "männlichen" Spielregeln, womit nur bewiesen wird, daß es sich nicht um biologische Bedingungen, sondern um sozialhistorische Zuschreibungen handelt. Der strukturell "männliche" Künstler in seinem Glaskäfig der abgespaltenen Ästhetik wird dabei zu einem besonders schizophrenen Wesen: Einerseits ist er durch und durch kapitalistischer "Mann" und Geldverdiener, der auf der bürgerlichen Privatheit erster Ordnung ruht und "die Frau" als inferiores Pflegewesen im Hintergrund benötigt wie jeder ordinäre Autoverkäufer; andererseits vertritt er innerhalb der "männlichen" bürgerlichen Öffentlichkeit in Gestalt der Ästhetik selber ein abgespaltenes "weibliches" Element, das nicht im funktionalistischen System aufgeht und trotzdem Teil der kapitalistischen Öffentlichkeit ist.
Nur in Form der abgetrennten, sterilen und musealen Kunstgegenständlichkeit kann das "Weibliche" innerhalb des männlichen Pseudo-Universums erscheinen. Der Künstler ist somit der kapitalistische Mann, der als einziger weibliche Seiten zeigen und notfalls sogar homosexuell sein darf - aber nur als der gesellschaftliche Irrläufer des narzißtisch auf sich selbst bezogenen Ästhetischen, der "die Frau" auch noch ihrer zugeschriebenen Attribute beraubt und somit der Übermann gerade dadurch ist, daß er sogar das "Weibliche" männlich eingemeindet und "die Frau" als Modell, Gegenstand oder Muse zum bloßen Objekt der Schönheit degradiert. Gleichzeitig wird ihm aber dennoch von der bürgerlichen Gesellschaft seine Repräsentanz des Weiblichen im Männlichen als Manko angekreidet und die "weibliche Inferiorität" färbt auf ihn ab, sodaß er von den Kollegen Autoverkäufern als gesellschaftlicher Exot betrachtet und nicht in jeder Hinsicht für voll genommen wird.
Diese Struktur der Abspaltungen, die das Wesen der Moderne ausmacht, wird aber heute schon als historische Vergangenheit wahrgenommen. Die kapitalistische Dynamik hat ihre eigene gesellschaftliche Form gesprengt und prozessiert dennoch hemmungslos weiter. Massenkultur und neue Medien scheinen die systemische "Ausdifferenzierung" einzuebnen: Was die Kritik vor einem halben Jahrhundert noch als "Kulturindustrie" (Adorno) denunziert hat, wird heute von den Postmodernisten als Reintegration von Kunst und Leben gefeiert. Medialisierung gilt per se schon als Emanzipation von den Zwängen der kapitalistischen Realität; die Welt wird zum digitalen Spiel erklärt. Überall wimmelt es nur so von "Chancen", die im Sinne der medialen "Demokratisierung" ergriffen werden können. Und im lustigen habituellen Maskenball der Geschlechter glaubt die schöne neue postmoderne Welt auch die geschlechtliche Abspaltung überwunden zu haben. Der Transvestit wird fast schon zum neuen revolutionären Subjekt ausgerufen.
Die Chancen-Rhetorik des postmodernen kulturellen Berufsoptimismus, auch wenn er sich manchmal linksradikal geriert, erinnert verdächtig an die Orwellsche Sprache der neoliberalen Ökonomisten. Tatsächlich kehrt nicht die Kunst als "demokratische Massenkultur" in die Gesellschaft zurück, sondern umgekehrt überschreitet der Markt seine Grenzen und erneuert seinen Anspruch auf die Totalität härter denn je. Nachdem sich die kapitalistische Ökonomie vom kulturellen Lebenszusammenhang abgespalten und dessen Reste in getrennte Subsysteme verwandelt hatte, konnte ihre Dynamik bei diesem Zustand der Desintegration nicht stehen bleiben. Schienen die Sektoren der Kunst und Kultur, des Sports, der Religion, der "Freizeit" usw. zunächst noch eine gewisse eigene Logik gegen das dominierende System der "herausgelösten Ökonomie" behaupten zu können, so werden sie nun sukzessive selber "ökonomisiert".
Abhängig und zweitrangig waren diese Bereiche von Anfang an: Wenn der soziale Zusammenhang der Gesellschaft durch den abgespaltenen Selbstzweck des Geldes bestimmt wird, muß auch der Priester, der Athlet und der Künstler "Geld verdienen"; sei es direkt als Verkäufer auf dem Markt, sei es indirekt durch die staatliche Abschöpfung von Geld aus den Prozessen des Marktes. Aber diese Abhängigkeit war lange Zeit nur eine äußerliche. Solange die Kunst in ihrer eigenen Produktion nicht den ökonomischen Gesetzen des Marktes ausgeliefert war, konnte sie auch noch nicht ganz kapitalistische Ware sein, sondern wurde es erst nachträglich in der Zirkulation. Aber der kapitalistische Selbstzweck ist ebenso gefräßig wie unersättlich, und so mußte er schließlich auch den selber schon verstümmelten Rest des Lebens auffressen: die abgespaltene Kunst und Kultur ebenso wie die kümmerliche "Freizeit" und die beschränkte familiäre Intimität.
Die Kunst kehrt nur insofern in das Leben zurück, als das Leben sich bereits in die Ökonomie aufgelöst hat. Jetzt hat die Kunst kein eigenes Dasein mehr, nicht einmal als Sphäre einer abgespaltenen Ästhetik, sondern sie ist selber unmittelbar ein ökonomischer Gegenstand geworden und deshalb findet bereits ihre Produktion unter den Gesichtspunkten des Marketings statt. Überhaupt alle Gegenstände der Welt und des Lebens besitzen im entgrenzten Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts keinen eigenen qualitativen Wert mehr, sondern nur noch den ökonomischen Wert, den ihnen ihre Marktgängigkeit verleiht.
Was die Postmoderne als emanzipatorische Chance der Kunst in der kapitalistischen Massenkultur wittern möchte, ist in Wirklichkeit ihre Zerstörung. Wenn die "fröhlichen Positivisten" (Michel Foucault) der Postmoderne diese prophetische Einsicht Adornos heute in die Nähe eines konservativen Kulturpessimismus rücken wollen, dann beweisen sie damit nur, daß sie selber vor dem ökonomischen Imperativ bedingungslos kapituliert haben und nicht weniger affirmativ als die konservativen Scheinkritiker sind. Kritisiert der konservative Kulturpessimismus die Zerstörung der Kunst durch die kapitalistische Kulturindustrie nur vom Standpunkt ihrer eigenen Vergangenheit, als sie noch selbstzweckhafte Ästhetik in der klassischen Moderne war, so lügt sich der Postmodernismus den letzten Schub der Auflösung von Kunst in Ökonomie als ihre Wiederaneignung durch die Gesellschaft zurecht. Und trauert die konservative Kulturkritik der bürgerlichen Familie ebenso nach wie den elitären Subjekten des alten Bildungsbürgertums, so verkennt der Postmodernismus das einsame mediale Elend des atomisierten "dezentrierten Subjekts" als emanzipatorischen Frühling. Die einen kleben an der kapitalistischen Vergangenheit, die anderen an der kapitalistischen Gegenwart, beide verweigern eine neue Perspektive für die antikapitalistische Zukunft.
Männer und Frauen, Künstler und Autoverkäufer sind heute nur insofern identisch geworden, als sie alle dieselbe leere Identität des "homo öconomicus" angenommen haben und als willenlose Agenten des "automatischen Subjekts" nicht mehr sie selbst sind. Die "Ausdifferenzierung" der sektoral aufgespaltenen Subjektivitäten wird von der Marktwirtschaft niedergewalzt, bis jeder eine Art Autoverkäufer ist, egal was er tut. Der naive Glaube an die kulturindustrielle postmoderne Konsumentendemokratie blamiert sich unter der Diktatur des kapitalistischen Angebots. Die Kulturindustrie ist daher nicht zu kritisieren, weil sie Massenkultur ist, sondern weil sie in der entfremdeten Form der "herausgelösten Ökonomie" aufgeht. Ihre Ästhetik ist nicht die Ästhetik des Menschen, sondern die Ästhetik der Ware.
In der Demokratie der Waren haben die Menschen als Menschen nichts mehr zu sagen. Die Warenästhetik integriert nicht die desintegrierten Individuen, sondern die Waren als gespenstische Pseudosubjekte. Sie ist nicht die ästhetische Form eines Inhalts, sondern das "Design" der ökonomischen Abstraktion. Dieses Endstadium der modernen Ästhetik läßt sich auf mehreren Ebenen beschreiben:
- Erstens handelt es sich um eine Ästhetik des Partikularismus. Kontexte und Zusammenhänge bleiben unberücksichtigt. Es wird ignoriert, daß das Ganze mehr und etwas qualitativ anderes ist als die Summe der Teile. Das Design ist die glitzernde Ästhetik der abstrakten einzelnen Ware für den Konsum des abstrakten einzelnen Individuums, während sich das Ganze der Landschaft, der Städte und des sozialen Raums in eine stinkende Müllhalde verwandelt.
- Zweitens entspricht diesem Design eine Ästhetik der Beliebigkeit. Form und Inhalt haben keine Beziehung mehr zueinander, weil der Inhalt selber zur Form umdefiniert wird. Dem Kapital ist es gleichgültig, ob es sich durch die Produktion von Schweinehälften, Tretminen oder Abführmitteln verwertet. Ebenso gleichgültig muß es der zum Design ökonomisierten Kunst werden, was sie produziert - wenn es sich nur als verkäuflich und medial inszenierungsfähig darstellt. Damit ist jeder Maßstab beseitigt. Während eine bewußte kulturelle Integration immer Maßstäbe entwickeln muß, auch wenn sie um deren Relativität weiß und sie verändern kann, ist die Warenästhetik apriori maßstabslos - passend zum postmodernen "dezentrierten Subjekt", dem buchstäblich "alles egal" ist. Eine Welt ohne Maßstäbe, die alles gleichgültig macht, kann aber nur noch eines hervorbringen: endlose Langeweile.
- Drittens erweist sich die zum Design der Warenwelt degradierte Kunst und Kultur als Ästhetik der Simulation. Die postmoderne Schnapsidee einer medialen Derealisation der Realität (Jean Baudrillard u.Co.) möchte nur allzugern an den Schein des Designs glauben, weil sie ihn selber produziert. Die Simulation der Medien versucht eine parallele virtuelle und entmaterialisierte Welt aufzubauen, in der dem Kapitalismus keine natürlichen und sozialen Schranken mehr gesetzt sind und das Wachstum der "herausgelösten Ökonomie" endlos fortgesetzt werden kann. Den virtuellen Scheinwelten der Medien entspricht ökonomisch der Kasinokapitalismus der letzten 15 Jahre: Die entkoppelten Finanzmärkte simulieren eine Akkumulation des Kapitals, die längst keinen realökonomischen Boden mehr unter den Füßen hat. Der Kapitalismus läuft gewissermaßen in der Luft weiter, nachdem er den Rand des Abgrunds überschritten hat. In diesem ökonomischen Milieu des "fiktiven Kapitals" (Karl Marx) von Aktienboom, Verschuldung, Gewinnspielen und "Risiko"-Soziologie (Ulrich Beck) hat sich ein Zeitgeist entwickelt, der die Unerträglichkeit der kapitalistischen Zumutungen durch ein "So tun als ob" überspielen möchte. In der simulativen Pose einer medialen Selbst-Ästhetisierung tun die Individuen so, "als ob" sie kompetent, erfolgreich, schön und reflektiert wären, während ihre realen sozialen Beziehungen zusammenbrechen.
Partikularismus, Beliebigkeit und Simulation verraten, daß die zerstörte Kunst durch ihre Mutation zur Warenästhetik nur negativ in ein gesellschaftliches Leben integriert wird, das schon kein Leben mehr ist. Das alte Problem der Trennung von Kunst und Leben ist nicht gelöst, sondern gegenstandslos geworden, weil der gesellschaftliche Mensch selber gegenstandslos geworden ist. Aber auch diese Gegenstandslosigkeit erweist sich als bloßer Schein, in dem sich das "automatische Subjekt" gewissermaßen in den Köpfen der Menschen Illusionen über sich selbst macht. Die kapitalistische Realität soll entwirklicht werden, weil sie ausweglos am absoluten Ende ihrer Entwicklung angekommen ist, ohne daß die systemisch konditionierten Menschen diese historische Krise wahrhaben wollen. Aber hinter dem glatten Design der Warenästhetik zeigt sich unerbittlich ihre wahre negative Existenz. Ihrem realen Leiden können sie nicht entfliehen, auch wenn sie versuchen, sich selber medial zu entwirklichen.
Die "herausgelöste Ökonomie" kann sich immer nur tautologisch in sich selbst integrieren, aber ihr Anspruch auf reibungslose Totalisierung muß scheitern, weil sie das wirkliche, sinnliche Leben zwar negativ machen, aber nicht ihrer surrealen Welt der verselbständigten Abstraktionen einverleiben kann - ebensowenig wie sie imstande ist, den Tod zu entwirklichen. Das Verdrängte kehrt nicht zurück, es ist immer schon da. Nur an der Oberfläche des Designs erscheint das System der Spaltungen in die Ökonomisierung der Welt aufgelöst. Hinter diesem Schein aber wird die desintegrierte reale Welt unerträglich. Wie die geschlechtliche Abspaltung nicht in der Travestie verschwindet, sondern die postmoderne "Verwilderung des Patriarchats" (Roswitha Scholz) auch nach der Zersetzung der bürgerlichen Familie die Lasten der sozialen Krise primär auf die Frauen abwälzt, ebensowenig verschwindet das ästhetische Elend der funktionalistisch zugerichteten Welt im warenästhetischen Design, sondern tritt in der Trostlosigkeit der ökonomisierten öffentlichen Räume umso krasser hervor.
Wenn die reale Krise nicht mehr länger verdrängt werden kann, geht die mediale Entwirklichung dazu über, das unüberwundene und schmerzhaft wahrgenommene Elend zu "ästhetisieren", auch wenn diese Ästhetisierung der Krise nicht mehr die politischen Formen der 30er Jahre annimmt, sondern sogar in der Politik selber "ökonomisiert" in Erscheinung tritt. Aber aus der kommerziellen, warenästhetisch aufbereiteten Medialisierung von Armut, Gewalt und Verwilderung der Geschlechterverhältnisse grinsen die Motive des Faschismus heraus. Die Ästhetik von medialer Derealisation und maßstabsloser Beliebigkeit ist die Ästhetik des Bürgerkriegs und der Barbarei, denn sie beseitigt letzten Endes auch die zivilisatorischen Hemmungen.
Eine Rückkehr in die klassische Moderne kann es ebensowenig geben wie die Rückkehr in die alten agrarischen Formen der kulturell integrierten Gesellschaft. Aber ein Weiterleben in der kapitalistischen Desintegration ist ebensowenig möglich. Auch die Kunst kann sich nur selbst positiv aufheben, indem sie bewußt zum Moment einer neuen sozialen Bewegung wird, die über den alten Arbeiterbeweguns-Marxismus hinausgeht und die Wurzel bloßlegt, die das System der Abspaltungen und funktionellen Trennungen hervorgebracht hat. Eine kulturelle Integration der Gesellschaft auf neuer, höherer Stufenleiter der Entwicklung wird nur möglich sein, wenn der Selbstzweck der Ökonomie gebrochen und die basale geschlechtliche Abspaltung aufgehoben wird. Die Voraussetzung einer neuen emanzipatorischen Debatte ist heute die Notwehr gegen die kapitalistische Ökonomisierung der Welt.
Alle Versuche der Kunst, aus ihrem gläsernen Ghetto auszubrechen, sind gescheitert. In Fabriken aufgestellte Plastiken und Gemälde an den Wänden von Büros blieben Fremdkörper; literarische Lesungen in Kirchen oder Schulen kamen nie über den Charakter von Pflichtveranstaltungen hinaus. Als die Dadaisten aus Verzweiflung zum Mittel der Provokation griffen und rostige Eisenrohre oder Klosettschüsseln in die heiligen Hallen der Kunst schleppten, um die Bourgeoisie zu verhöhnen, wurde dieses Angebot mit tierischem Ernst als Kunstgegenständlichkeit angenommen und katalogisiert wie die Skulpturen von Michelangelo oder die Bilder von Picasso. Die tautologische Definition lautet: Kunst ist alles, was die Gesellschaft a priori in einem getrennten Reservat namens "Kunst" wahrnimmt und was in dieser seiner Kunstgegenständlichkeit ohne Rücksicht auf den Inhalt gesammelt werden kann wie Briefmarken oder aufgespießte Käfer. Egal was die Kunst selber will und wie sie es darstellt, sie ist damit immer schon entschärft und verharmlost. Der Künstler ist für die kapitalistischen Eliten nicht einmal ein Hofnarr, sondern bestenfalls ein spezieller Lieferant wie der Weinhändler oder der Konditor. Einen Gebrauchtwagen würde man nicht von ihm kaufen und als Schwiegersohn wäre er unmöglich. Das ist jedenfalls sein Status in der klassischen Moderne.
Ihre eigene Existenzweise und deren Kategorien hat die moderne Gesellschaft schon immer als überhistorische und allgemein-menschliche gesehen. Wenn etwas faul und eigentlich unerträglich ist an diesem System, dann soll es sich nie um eine historische und durch Kritik zu überwindende Problemlage handeln, sondern immer um eine unaufhebbare Bedingung der Existenz schlechthin, mit der die Menschheit nun einmal bedauerlicherweise leben muß. Durch die Brille dieser Ontologisierung nimmt die Moderne auch das Dilemma der Getrenntheit von Kunst und Leben wahr. Es wird so getan, als wäre in der griechischen Antike der Künstler ganz genauso wie heute ein Verkäufer seiner Möglichkeiten gewesen und als hätten schon die alten Ägypter ihre Götterbilder in Galerien und Museen ausgestellt oder auf Auktionen mit Preisschildern versehen.
Aber die alten Zivilisationen hatten in unserem Sinne keine "Kunst" und auch keine "Kultur". Denn die moderne Struktur von getrennten und gegeneinander verselbständigten Sphären, die auch unsere Sprache und unser Denken bestimmt, war allen früheren Gesellschaften vollkommen fremd. Welche menschlichen Defizite, Probleme und soziale Herrschaftsverhältnisse sie auch immer hatten, sie zerlegten ihr Dasein nicht in abgeteilte Funktionsbereiche. Die moderne Systemtheorie betrachtet dies als einen Mangel an "Ausdifferenzierung", womit sie einen Gradmesser von Primitivität unterstellt: Je integrierter eine Gesellschaft ist, desto primitiver ist sie auch; und je "ausdifferenzierter" umgekehrt eine Gesellschaft ist, desto "entwickelter" ist sie und desto mehr "Chancen" bietet sie - so die Behauptung des spätbürgerlichen Systemdenkens. Wie schon immer seit der Aufklärung erscheint die kapitalistische Moderne als die Krönung der Geschichte, obwohl es etwas Erbärmliches hat, die höchste und nicht mehr überbietbare Errungenschaft gesellschaftlicher Evolution ausgerechnet darin zu sehen, daß der funktionalistisch reduzierte Mensch nur noch einen Schnittpunkt von systemischen Strukturen darstellt.
Aber die vormodernen Gesellschaften waren in Wirklichkeit nicht primitiv, sondern durchaus hochdifferenziert; nur entsprach diese Art der Differenzierung nicht dem modernen Begriff davon. Die alten, vorwiegend agrarischen Sozietäten hatten keine Kultur, sondern sie waren eine Kultur. In unserem wissenschaftlichen Sprachgebrauch kommt das sogar zum Ausdruck, wenn auch meistens unreflektiert: Wir sprechen ohne weiteres von der altägyptischen, der mesopotamischen, der antiken "Kultur" usw. und meinen damit in der Regel sowohl die speziellen Artefakte und künstlerischen Darstellungen aus Bildhauerei, Malerei, Literatur etc. als auch andererseits die jeweilige Gesellschaft als Ganzes mitsamt ihrer sozialen Struktur. Wenn hingegen von "moderner Kultur" die Rede ist, dann meinen wir damit immer nur jenen besonderen Aspekt der Ausdrucksformen und niemals das ganze gesellschaftliche System. Automatisch und unbewußt "wissen" wir also, daß Kultur früher einmal das Ganze war und nicht eine funktionell abgetrennte Sphäre für die sonntägliche museale Erbauung des geldverdienenden Menschen.
Tatsächlich bedeutet ja das lateinische Wort "cultus", auf das unser Kulturbegriff zurückgeht, sowohl "Anpflanzung" und "Ackerbau" als auch "Gottesdienst", "Lebensweise", "Gesellschaftlichkeit", "Bildung" und sogar "Kleidung" (für bestimmte Anläße). Diese vielschichtige Begrifflichkeit verweist auf den integrierten Charakter der alten Agrargesellschaften. Die differenzierten Inhalte und Formen sowohl des "Stoffwechsels mit der Natur" (Karl Marx) als auch der sozialen Beziehungen und der Ästhetik fielen nicht als "Subsysteme" mit jeweils "eigener Logik" auseinander, sondern sie waren immer der Ausdruck einer einzigen und kohärenten kulturellen Daseinsweise. In modernen terms muß sich die Beschreibung dieser kulturellen Existenz verwirrend anhören: Die Produktion war ästhetisch, die Ästhetik religiös, die Religion politisch, die Politik kulturell, die Kultur sozial usw. Mit anderen Worten: Die für uns distinkten gesellschaftlichen Attribute waren miteinander verschränkt, jeder Bereich des Lebens war in jedem anderen gewissermaßen mitenthalten.
Man könnte vielleicht versucht sein, von einer religiösen Konstitution dieser agrarischen Kulturen zu sprechen, weil die Religion anscheinend das stärkste integrative Moment der "Gesellschaft als Kultur" darstellte. Bekanntlich sind nicht nur alle Arten des künstlerischen Handwerks, sondern auch das Theater und die sportlichen Wettkämpfe aus kultischen Handlungen hervorgegangen; genauer gesagt: sie waren kultische Handlungen besonderer Art. Aber auch die ganz gewöhnlichen Verrichtungen des Alltags hatten grundsätzlich kultischen Charakter; sogar Witz und Ironie waren kultisch eingebunden. Dennoch wäre es verfehlt, "die Religion" als das systemisch bestimmende Moment solcher Gesellschaften herauszuheben, denn dabei denken wir ja schon wieder unseren funktionellen Begriff getrennter Sphären mit. Auch die Religion war aber keine Religion im modernen Sinne, kein bloßer "Glaube", keine beschränkte Gelegenheit für transzendente Gedanken und schon gar keine "Privatangelegenheit".
Wir dürfen uns deshalb den religiösen Charakter der alten Kulturen freilich nicht einfach als einengendes, irrationales Zwangsverhältnis vorstellen. Das Religiöse war gleichzeitig das Öffentliche, die sogenannte Politik, die Form der Debatte. Nicht umsonst hat das lateinische Wort "privatus" eine eher negative, abschätzige Bedeutung, die für uns noch deutlicher wird beim entsprechenden altgriechischen Begriff: dort ist der nicht alltäglich und selbstverständlich am öffentlichen Leben teilnehmende "privatus" der Idiot. Wenn aber das Religiöse gleichzeitig die Form des Öffentlichen und umfassend alltäglich ist, dann muß dies nicht bedeuten, daß sich darin die Beschränktheit dieser Gesellschaft zeigt, wie es die apologetische Ideologie der modernen Selbstlegitimation behauptet. Genausogut könnte umgekehrt gesagt werden, daß eine solche Kultur-Gesellschaft viel mehr Öffentlichkeit und Debatte hatte als das moderne System. Wie wir es auch drehen und wenden, wir kommen mit unserem modernen Selbstverständnis dem Dasein einer kulturell integrierten Gesellschaft nicht bei. Wir haben keine Begriffe dafür.
Diese moderne Blindheit für den Charakter vormoderner Verhältnisse hat noch ein weiteres großes Mißverständnis erzeugt. Im Zentrum dessen, was wir "Religion" nennen, steht im Grunde genommen in allen Kulturen das Problem der menschlichen Sterblichkeit und des Todes als Vorgang, Ereignis und "Lebensziel". Zusammen mit der Religion hat die Moderne auch den Tod in eine besondere funktionelle Sphäre verbannt und ihn damit - ähnlich wie die Kunst - vom Leben getrennt. Auf diese Weise führte die moderne Säkularisierung der Gesellschaft nicht etwa dazu, mit dem Tod anders und womöglich reflektierter umzugehen, sondern ihn zu verdrängen und zu ignorieren. Das, was die Religion in den alten Gesellschaften bedeutet hatte, wurde ja nicht etwa überwunden und positiv aufgehoben, sondern lediglich als irrationaler Rest für den Privatsinn des abstrakten Einzelnen funktionell reduziert. Im Hinblick auf die leibliche Sterblichkeit ging die Moderne sogar noch weiter: Wie die alten und für die kapitalistische Reproduktion "unbrauchbar" gewordenen Menschen sogar ihren eigenen Kindern als bloße "Altlast" erscheinen und in Anstalten weggesperrt werden, die vom normalen Leben abgetrennt sind, so werden auch die Toten wie Müll und industrieller Schrott "entsorgt".
Nachdem die Moderne den Tod verdrängt hatte, konnte sie die frühere Integration von Leben und Tod nur noch als erschreckende "Todesbezogenheit" begreifen. Daß die alten Ägypter so großen Wert auf ihre Gräber und auf das Einbalsamieren der Toten legten, wird ihnen gewöhnlich als finsterer Todeskult ausgelegt, als wären sie mit nichts anderem beschäftigt gewesen. Erst recht angewidert zeigt sich der moderne Mensch von der weit verbreiteten Sitte der Jungsteinzeit, die Gebeine der Toten mitten im Haus unter der Feuerstelle zu begraben. In Wirklichkeit müssen alle diese Menschen äußerst lebenslustig gewesen sein, wie die Altertumswissenschaften heute in vieler Hinsicht belegen können. Die selbstverständliche Integration des Todes in den Alltag erscheint uns nur als fremdartig, weil das Problem unserer eigenen Sterblichkeit auf einen im gewöhnlichen Leben unsichtbaren Ort "ausgelagert" worden ist. Diverse Kulturkritiker haben diese Trennung von Leben und Tod ebenso wie die Trennung von Kunst und Leben in der Geschichte der Modernisierung immer wieder zum quälenden Thema gemacht, ohne daß jedoch die zugrunde liegende gesellschaftliche Struktur dabei jemals radikal kritisiert worden wäre.
In einer "Gesellschaft als Kultur", die sogar den Tod zu integrieren imstande war, mußte notwendigerweise auch die "Kunst" immer schon Bestandteil des alltäglichen Lebens sein und war daher völlig undenkbar als das Exponat einer sterilisierten und toten Sphäre "hinter Glas". Aber eben deswegen war sie auch keine Kunst als Kunst, sondern ein bestimmtes Moment in einem integrierten gesellschaftlichen Zusammenhang. Der "Künstler" konnte daher nur im Sinne einer technischen Fähigkeit Künstler und anerkannt sein, nicht aber als sozialer Repräsentant "der" Kunst. Das Problem der funktionalen Trennungen, das die Moderne so beschäftigt, ist zusammen mit ihr überhaupt erst entstanden und hätte vorher nicht einmal formuliert werden können. Es fragt sich also, woher diese systemische "Ausdifferenzierung" eigentlich kommt.
Der Prozeß der Modernisierung hat die Gesellschaft keineswegs gleichmäßig und gleichwertig aufgegliedert. Vielmehr wurde ein bestimmter Aspekt der menschlichen Reproduktion, nämlich die sogenannte Ökonomie, von allen übrigen Aspekten und vom Leben überhaupt abgespalten. Ebensowenig wie von einer Kunst oder Religion kann daher für die alten agrarischen Zivilisationen von einer Ökonomie in unserem Sinne gesprochen werden, obwohl der Begriff aus der Antike stammt. War aber die "Oikonomia" im antiken Griechenland als Hauswirtschaft wie bei allen vormodernen Zivilisationen im integrierten kulturellen Zusammenhang eine sachliche Voraussetzung und ein Mittel für kultische und damit soziale oder ästhetische Zwecke gewesen, so entwickelte sie sich in der Moderne zu einem absurden Selbstzweck und zum zentralen Inhalt der Gesellschaft: Das Geld wurde als Kapital auf sich selbst rückgekoppelt und damit zum blinden "automatischen Subjekt" (Karl Marx), das allen menschlichen und kulturellen Zwecken gespenstisch vorausgesetzt ist.
Indem diese "Verwertung des Werts" (Karl Marx) oder abstrakte betriebswirtschaftliche Gewinnmaximierung sich als prozessierender Selbstzweck vom Leben abspaltete, entstand erstmals eine getrennte, verselbständigte "Funktionssphäre" wie ein Fremdkörper in der Gesellschaft, der sich zur Herrschaft und zum Zentrum aufzuschwingen begann. Und erst das Dasein dieses abgespaltenen und gleichzeitig dominierenden Sektors ließ auch alle anderen, von der kapitalistischen Ökonomie noch übriggelassenen Aspekte der gesellschaftlichen Reproduktion als getrennte "Subsysteme" erscheinen, die jedoch ausnahmslos bloß sekundäre Bedeutung haben und dem vorausgesetzten ökonomischen Selbstzweck untergeordnet sind.
Unter dem Diktat der verselbständigten Ökonomie mutierte die produktive Tätigkeit zur abstrakten "Arbeit" in einem entfremdeten, vom Leben getrennten Funktionsraum, der erst sekundär und unter dem Zwang seiner eigenen unbeherrschbaren "Systemgesetzlichkeit" durch die ebenfalls getrennte Sondersphäre der Politik reguliert wird. Eine solche von der kulturell integrierten Gesellschaft abgespaltene "Politik" mußte daher den vormodernen Zivilisationen ebenso unbekannt sein wie die "herausgelöste Ökonomie" (Karl Polanyi) des kapitalistischen Selbstzwecks und der dazugehörige positive Begriff der abstrakten "Arbeit" außerhalb eines integrierten Lebenszusammenhangs. Die moderne Politik und die dazugehörigen Institutionen von Staat und Recht können nicht mit den scheinbar entsprechenden vormodernen Institutionen gleichgesetzt werden, die ebensowenig wie die "Religion" den Charakter getrennter funktioneller Sektoren hatten. Erst im Prozeß der modernen gesellschaftlichen Desintegration durch die "herausgelöste Ökonomie" entstanden Politik, Staat und Recht in unserem Sinne als komplementäre "Subsysteme" zweiter Ordnung und damit als erste Diener (Minister!) des stummen Apriori kapitalistischer Ökonomie.
Wenn der zentrale Inhalt und Zweck der Gesellschaft ein abgespaltener Selbstzweck geworden ist, dann muß notwendigerweise das Leben zu einem bloßen Rest herabsinken. Die Äußerungen des Lebens jenseits der systemischen Spaltungen und komplementären Funktionssphären von Markt und Staat, Ökonomie und Politik, Konkurrenz und Recht wurden zum Restmüll der "Freizeit" degradiert; und irgendwo in Bezug auf diesen diffusen Rest ist nicht nur die Religion, sondern auch die Kunst und Kultur als besondere Sphäre angesiedelt. Alle Dinge, die den Menschen einmal entscheidend wichtig waren, alle existentiellen Fragen, alle damit verbundenen ästhetischen Zwecke und Ausdrucksformen sind zu diesem bedeutungslosen "Rest" geworden und ihre Repräsentanten müssen um die Brosamen raufen, die vom Tisch des monströsen Selbstzwecks abfallen.
Besonders absurd ist dabei die Lage der Kunst und des Ästhetischen überhaupt. Obwohl jede Erscheinung des Lebens an sich für den Menschen immer ein ästhetisches Moment besitzt, hat der Kapitalismus diese elementare Tatsache negiert und die Ästhetik in einen getrennten Raum abgespalten wie alle anderen Momente auch. Die "Arbeit" ist nicht ästhetisch, die Ökonomie ist nicht ästhetisch, die Politik ist nicht ästhetisch, nur die Ästhetik ist ästhetisch. Es ist, als würde die Ästhetik der Dinge eine abstraktifizierte, gespenstische Eigenexistenz neben den Dingen führen; ganz wie die Gesellschaftlichkeit der Produkte in der zum Selbstzweck gewordenen abstrakten Form des Geldes eine abstraktifizierte Sonderexistenz neben den Produkten führt und die abstrakte formale Logik als das "Geld des Geistes" (Marx) verselbständigt neben die konkrete Logik der wirklichen Zusammenhänge tritt.
Das gläserne Gefängnis des Künstlers besteht gerade in dieser strukturellen Abspaltung des Ästhetischen. Die Kunst tigert in diesem Käfig hilflos hin und her; sie ist nicht mehr die künstlerische Form eines gesellschaftlichen Inhalts, sondern abgespaltene "Formheit" - entweder Form ohne Inhalt oder Inhalt als bloße Form. Die Kunst muß also den Selbstzweck des Kapitals nachäffen, das sich als abstrakte und auf sich selbst rückgekoppelte Form (Geld) am liebsten von jedem materiellen Inhalt emanzipieren möchte, ohne diese Absurdität jemals realisieren zu können. "L'art pour l'art" ist nur der Gipfelpunkt der Kunst als unfreiwillige Karikatur des Kapitals, ohne das Dilemma auf dem Boden des kapitalistischen Systems lösen zu können.
Ist sie aber durch ihre Not zum wahnhaft selbstverliebten Selbstzweck geworden, so kann die Kunst in ihrer unaufgehobenen Getrenntheit eine gesellschaftliche Hybris hervorbringen: Statt sich selbst als das Produkt eines Systems der Abspaltungen zu begreifen und die radikale Kritik dieser destruktiven Selbstzweck-Struktur zu mobilisieren, beginnt die Kunst die Spaltung selbst und deren funktionalistische Ausgeburten zu "ästhetisieren". Nicht nur ihr eigenes Dilemma wird dabei zum ästhetischen Sujet, sondern die schreiende kapitalistische Schizophrenie insgesamt. Wenn die kapitalistische Struktur aber nicht kritisiert, sondern ästhetisiert wird, dann können auch von Granaten zerfetzte Leiber, vergewaltigte Frauen, verhungernde Kinder und die Obszönität der Macht als bloß ästhetische Gegenstände erscheinen. Die abgespaltene Ästhetik kehrt nicht in die gesellschaftlichen Inhalte zurück, sondern beleuchtet sie nur in zynischer Reflexion. Eine "Ästhetisierung der Politik" innerhalb des unaufgehobenen kapitalistischen Systems führt so nicht in die Emanzipation, sondern direkt in die Barbarei. Die ästhetisch inszenierte Politik war das Erfolgsgeheimnis des Faschismus und Hitler der Prototyp des Künstlers als Politiker, der die getrennten Sphären nicht reintegriert, sondern ihre Desintegration zum blutigen Gesamtkunstwerk stilisiert.
Die prekäre Situation der Kunst in der kapitalistischen Struktur der Spaltungen hat auch eine geschlechtliche Seite. Damit sich die "herausgelöste Ökonomie" des kapitalistischen Selbstzwecks überhaupt etablieren und die moderne Sphärentrennung hervorbringen konnte, war eine elementare Voraussetzung nötig: Alles, was in diesem System der Spaltungen nicht aufging, mußte seinerseits primär abgespalten werden. Und das waren jene Momente des einstmals kulturell integrierten Lebens, die auf die moderne Frau abgewälzt wurden: Familie, "Hausarbeit", Kinderbetreuung, Pflege, "Liebe" usw. samt den dazugehörigen Eigenschaften, zu denen auch eine angebliche besondere Empfänglichkeit für das Ästhetische gehört: Die Frau als das "Naturschöne" schmückt sich und das Heim ihrer Lieben. Dieser soziale Raum, der nicht vollständig von den kapitalistischen Strukturen aufgesaugt werden konnte, aber dennoch für die menschliche Reproduktion notwendig blieb, trat als abgetrennte Privatheit neuer Art in Gegensatz zur gesamten gesellschaftlichen Struktur des Kapitals und der darin enthaltenen Binnen-Spaltungen. Es entstand also eine paradoxe "Abspaltung vom Gesamtsystem der Abspaltungen" (Roswitha Scholz), die dessen "dunkle Rückseite" bildet und als "weiblich" konnotiert ist, während umgekehrt das offizielle System als Ganzes "männlich" besetzt und dominiert wird.
Diese aus der feministischen Kritik hervorgewachsene Erkenntnis der elementaren und primären geschlechtlichen Abspaltung verweist auf ein sonderbares geschlechtliches Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit, das auch die abgespaltene ästhetische Sphäre von Kunst und Kultur betrifft. In den kulturell integrierten vormodernen Gesellschaften gab es zwar durchaus starke patriarchalische Momente, aber nicht in der "ausdifferenzierten" und zugespitzten modernen Form. Die kulturell integrierte Differenziertheit, für die wir keine Begriffe mehr besitzen, hat auch "Privatheit" und "Öffentlichkeit" nicht in unserem Sinne getrennt. In modernen Begriffen gesprochen war vieles öffentlich, was heute als privat gilt - und umgekehrt; soweit die Öffentlichkeit "männlich" war, blieb sie begrenzt oder es gab "männliche" und "weibliche" Öffentlichkeiten gleichzeitig und parallel im kulturellen Kontext.
Die paradoxen Formen der Desintegration auf der Basis der "herausgelösten Ökonomie" aber haben Öffentlichkeit und Privatheit auf eine doppelte Weise geschlechtlich getrennt. Einerseits gibt es den intimen Raum der Privatheit, in dem "die Frau" das sogenannte schöne Geschlecht und gleichzeitig zuständig ist für die Wärme des Nests, die Bequemlichkeit des Herrn, die liebevolle Zuwendung usw. - und gerade deswegen als inferior und "geistesschwach" gilt. Dieser inferioren Privatheit gegenüber erscheint das gesamte System des Kapitalismus mit der "herausgelösten Ökonomie" an der Spitze als die "männliche" Sphäre der bürgerlichen Öffentlichkeit und als die eigentliche Gesellschaft. Andererseits gibt es aber auch innerhalb dieser offiziellen "männlichen" Struktur eine zweite Binnen-Spaltung von Privatheit und Öffentlichkeit: Absurderweise erscheint hier die Aktivität für den subjektlosen Selbstzweck des Systems als die "männliche" Privatheit des kapitalistischen Interessen-Subjekts, des "homo öconomicus" und Geldverdieners, während die ebenfalls "männlich" besetzte komplementäre Sphäre der Politik als Öffentlichkeit definiert ist. Und die abgespaltene Sphäre der Ästhetik oder Kunst und Kultur stellt nur einen Wurmfortsatz dieser Binnen-Öffentlichkeit innerhalb des "männlichen" kapitalistischen Pseudo-Universums dar.
Deshalb ist "der Künstler" im Prinzip ein männliches Wesen innerhalb der kapitalistischen Öffentlichkeit, wenn auch an einem besonders prekären Ort. Zwar gibt es auch Künstlerinnen, ebenso wie Politikerinnen, Unternehmerinnen, Wissenschaftlerinnen usw. - aber erstens bloß als Ausnahmen, von denen die soziologische Regel bestätigt wird; und zweitens immer in Adaption an die "männlichen" Spielregeln, womit nur bewiesen wird, daß es sich nicht um biologische Bedingungen, sondern um sozialhistorische Zuschreibungen handelt. Der strukturell "männliche" Künstler in seinem Glaskäfig der abgespaltenen Ästhetik wird dabei zu einem besonders schizophrenen Wesen: Einerseits ist er durch und durch kapitalistischer "Mann" und Geldverdiener, der auf der bürgerlichen Privatheit erster Ordnung ruht und "die Frau" als inferiores Pflegewesen im Hintergrund benötigt wie jeder ordinäre Autoverkäufer; andererseits vertritt er innerhalb der "männlichen" bürgerlichen Öffentlichkeit in Gestalt der Ästhetik selber ein abgespaltenes "weibliches" Element, das nicht im funktionalistischen System aufgeht und trotzdem Teil der kapitalistischen Öffentlichkeit ist.
Nur in Form der abgetrennten, sterilen und musealen Kunstgegenständlichkeit kann das "Weibliche" innerhalb des männlichen Pseudo-Universums erscheinen. Der Künstler ist somit der kapitalistische Mann, der als einziger weibliche Seiten zeigen und notfalls sogar homosexuell sein darf - aber nur als der gesellschaftliche Irrläufer des narzißtisch auf sich selbst bezogenen Ästhetischen, der "die Frau" auch noch ihrer zugeschriebenen Attribute beraubt und somit der Übermann gerade dadurch ist, daß er sogar das "Weibliche" männlich eingemeindet und "die Frau" als Modell, Gegenstand oder Muse zum bloßen Objekt der Schönheit degradiert. Gleichzeitig wird ihm aber dennoch von der bürgerlichen Gesellschaft seine Repräsentanz des Weiblichen im Männlichen als Manko angekreidet und die "weibliche Inferiorität" färbt auf ihn ab, sodaß er von den Kollegen Autoverkäufern als gesellschaftlicher Exot betrachtet und nicht in jeder Hinsicht für voll genommen wird.
Diese Struktur der Abspaltungen, die das Wesen der Moderne ausmacht, wird aber heute schon als historische Vergangenheit wahrgenommen. Die kapitalistische Dynamik hat ihre eigene gesellschaftliche Form gesprengt und prozessiert dennoch hemmungslos weiter. Massenkultur und neue Medien scheinen die systemische "Ausdifferenzierung" einzuebnen: Was die Kritik vor einem halben Jahrhundert noch als "Kulturindustrie" (Adorno) denunziert hat, wird heute von den Postmodernisten als Reintegration von Kunst und Leben gefeiert. Medialisierung gilt per se schon als Emanzipation von den Zwängen der kapitalistischen Realität; die Welt wird zum digitalen Spiel erklärt. Überall wimmelt es nur so von "Chancen", die im Sinne der medialen "Demokratisierung" ergriffen werden können. Und im lustigen habituellen Maskenball der Geschlechter glaubt die schöne neue postmoderne Welt auch die geschlechtliche Abspaltung überwunden zu haben. Der Transvestit wird fast schon zum neuen revolutionären Subjekt ausgerufen.
Die Chancen-Rhetorik des postmodernen kulturellen Berufsoptimismus, auch wenn er sich manchmal linksradikal geriert, erinnert verdächtig an die Orwellsche Sprache der neoliberalen Ökonomisten. Tatsächlich kehrt nicht die Kunst als "demokratische Massenkultur" in die Gesellschaft zurück, sondern umgekehrt überschreitet der Markt seine Grenzen und erneuert seinen Anspruch auf die Totalität härter denn je. Nachdem sich die kapitalistische Ökonomie vom kulturellen Lebenszusammenhang abgespalten und dessen Reste in getrennte Subsysteme verwandelt hatte, konnte ihre Dynamik bei diesem Zustand der Desintegration nicht stehen bleiben. Schienen die Sektoren der Kunst und Kultur, des Sports, der Religion, der "Freizeit" usw. zunächst noch eine gewisse eigene Logik gegen das dominierende System der "herausgelösten Ökonomie" behaupten zu können, so werden sie nun sukzessive selber "ökonomisiert".
Abhängig und zweitrangig waren diese Bereiche von Anfang an: Wenn der soziale Zusammenhang der Gesellschaft durch den abgespaltenen Selbstzweck des Geldes bestimmt wird, muß auch der Priester, der Athlet und der Künstler "Geld verdienen"; sei es direkt als Verkäufer auf dem Markt, sei es indirekt durch die staatliche Abschöpfung von Geld aus den Prozessen des Marktes. Aber diese Abhängigkeit war lange Zeit nur eine äußerliche. Solange die Kunst in ihrer eigenen Produktion nicht den ökonomischen Gesetzen des Marktes ausgeliefert war, konnte sie auch noch nicht ganz kapitalistische Ware sein, sondern wurde es erst nachträglich in der Zirkulation. Aber der kapitalistische Selbstzweck ist ebenso gefräßig wie unersättlich, und so mußte er schließlich auch den selber schon verstümmelten Rest des Lebens auffressen: die abgespaltene Kunst und Kultur ebenso wie die kümmerliche "Freizeit" und die beschränkte familiäre Intimität.
Die Kunst kehrt nur insofern in das Leben zurück, als das Leben sich bereits in die Ökonomie aufgelöst hat. Jetzt hat die Kunst kein eigenes Dasein mehr, nicht einmal als Sphäre einer abgespaltenen Ästhetik, sondern sie ist selber unmittelbar ein ökonomischer Gegenstand geworden und deshalb findet bereits ihre Produktion unter den Gesichtspunkten des Marketings statt. Überhaupt alle Gegenstände der Welt und des Lebens besitzen im entgrenzten Kapitalismus am Ende des 20. Jahrhunderts keinen eigenen qualitativen Wert mehr, sondern nur noch den ökonomischen Wert, den ihnen ihre Marktgängigkeit verleiht.
Was die Postmoderne als emanzipatorische Chance der Kunst in der kapitalistischen Massenkultur wittern möchte, ist in Wirklichkeit ihre Zerstörung. Wenn die "fröhlichen Positivisten" (Michel Foucault) der Postmoderne diese prophetische Einsicht Adornos heute in die Nähe eines konservativen Kulturpessimismus rücken wollen, dann beweisen sie damit nur, daß sie selber vor dem ökonomischen Imperativ bedingungslos kapituliert haben und nicht weniger affirmativ als die konservativen Scheinkritiker sind. Kritisiert der konservative Kulturpessimismus die Zerstörung der Kunst durch die kapitalistische Kulturindustrie nur vom Standpunkt ihrer eigenen Vergangenheit, als sie noch selbstzweckhafte Ästhetik in der klassischen Moderne war, so lügt sich der Postmodernismus den letzten Schub der Auflösung von Kunst in Ökonomie als ihre Wiederaneignung durch die Gesellschaft zurecht. Und trauert die konservative Kulturkritik der bürgerlichen Familie ebenso nach wie den elitären Subjekten des alten Bildungsbürgertums, so verkennt der Postmodernismus das einsame mediale Elend des atomisierten "dezentrierten Subjekts" als emanzipatorischen Frühling. Die einen kleben an der kapitalistischen Vergangenheit, die anderen an der kapitalistischen Gegenwart, beide verweigern eine neue Perspektive für die antikapitalistische Zukunft.
Männer und Frauen, Künstler und Autoverkäufer sind heute nur insofern identisch geworden, als sie alle dieselbe leere Identität des "homo öconomicus" angenommen haben und als willenlose Agenten des "automatischen Subjekts" nicht mehr sie selbst sind. Die "Ausdifferenzierung" der sektoral aufgespaltenen Subjektivitäten wird von der Marktwirtschaft niedergewalzt, bis jeder eine Art Autoverkäufer ist, egal was er tut. Der naive Glaube an die kulturindustrielle postmoderne Konsumentendemokratie blamiert sich unter der Diktatur des kapitalistischen Angebots. Die Kulturindustrie ist daher nicht zu kritisieren, weil sie Massenkultur ist, sondern weil sie in der entfremdeten Form der "herausgelösten Ökonomie" aufgeht. Ihre Ästhetik ist nicht die Ästhetik des Menschen, sondern die Ästhetik der Ware.
In der Demokratie der Waren haben die Menschen als Menschen nichts mehr zu sagen. Die Warenästhetik integriert nicht die desintegrierten Individuen, sondern die Waren als gespenstische Pseudosubjekte. Sie ist nicht die ästhetische Form eines Inhalts, sondern das "Design" der ökonomischen Abstraktion. Dieses Endstadium der modernen Ästhetik läßt sich auf mehreren Ebenen beschreiben:
- Erstens handelt es sich um eine Ästhetik des Partikularismus. Kontexte und Zusammenhänge bleiben unberücksichtigt. Es wird ignoriert, daß das Ganze mehr und etwas qualitativ anderes ist als die Summe der Teile. Das Design ist die glitzernde Ästhetik der abstrakten einzelnen Ware für den Konsum des abstrakten einzelnen Individuums, während sich das Ganze der Landschaft, der Städte und des sozialen Raums in eine stinkende Müllhalde verwandelt.
- Zweitens entspricht diesem Design eine Ästhetik der Beliebigkeit. Form und Inhalt haben keine Beziehung mehr zueinander, weil der Inhalt selber zur Form umdefiniert wird. Dem Kapital ist es gleichgültig, ob es sich durch die Produktion von Schweinehälften, Tretminen oder Abführmitteln verwertet. Ebenso gleichgültig muß es der zum Design ökonomisierten Kunst werden, was sie produziert - wenn es sich nur als verkäuflich und medial inszenierungsfähig darstellt. Damit ist jeder Maßstab beseitigt. Während eine bewußte kulturelle Integration immer Maßstäbe entwickeln muß, auch wenn sie um deren Relativität weiß und sie verändern kann, ist die Warenästhetik apriori maßstabslos - passend zum postmodernen "dezentrierten Subjekt", dem buchstäblich "alles egal" ist. Eine Welt ohne Maßstäbe, die alles gleichgültig macht, kann aber nur noch eines hervorbringen: endlose Langeweile.
- Drittens erweist sich die zum Design der Warenwelt degradierte Kunst und Kultur als Ästhetik der Simulation. Die postmoderne Schnapsidee einer medialen Derealisation der Realität (Jean Baudrillard u.Co.) möchte nur allzugern an den Schein des Designs glauben, weil sie ihn selber produziert. Die Simulation der Medien versucht eine parallele virtuelle und entmaterialisierte Welt aufzubauen, in der dem Kapitalismus keine natürlichen und sozialen Schranken mehr gesetzt sind und das Wachstum der "herausgelösten Ökonomie" endlos fortgesetzt werden kann. Den virtuellen Scheinwelten der Medien entspricht ökonomisch der Kasinokapitalismus der letzten 15 Jahre: Die entkoppelten Finanzmärkte simulieren eine Akkumulation des Kapitals, die längst keinen realökonomischen Boden mehr unter den Füßen hat. Der Kapitalismus läuft gewissermaßen in der Luft weiter, nachdem er den Rand des Abgrunds überschritten hat. In diesem ökonomischen Milieu des "fiktiven Kapitals" (Karl Marx) von Aktienboom, Verschuldung, Gewinnspielen und "Risiko"-Soziologie (Ulrich Beck) hat sich ein Zeitgeist entwickelt, der die Unerträglichkeit der kapitalistischen Zumutungen durch ein "So tun als ob" überspielen möchte. In der simulativen Pose einer medialen Selbst-Ästhetisierung tun die Individuen so, "als ob" sie kompetent, erfolgreich, schön und reflektiert wären, während ihre realen sozialen Beziehungen zusammenbrechen.
Partikularismus, Beliebigkeit und Simulation verraten, daß die zerstörte Kunst durch ihre Mutation zur Warenästhetik nur negativ in ein gesellschaftliches Leben integriert wird, das schon kein Leben mehr ist. Das alte Problem der Trennung von Kunst und Leben ist nicht gelöst, sondern gegenstandslos geworden, weil der gesellschaftliche Mensch selber gegenstandslos geworden ist. Aber auch diese Gegenstandslosigkeit erweist sich als bloßer Schein, in dem sich das "automatische Subjekt" gewissermaßen in den Köpfen der Menschen Illusionen über sich selbst macht. Die kapitalistische Realität soll entwirklicht werden, weil sie ausweglos am absoluten Ende ihrer Entwicklung angekommen ist, ohne daß die systemisch konditionierten Menschen diese historische Krise wahrhaben wollen. Aber hinter dem glatten Design der Warenästhetik zeigt sich unerbittlich ihre wahre negative Existenz. Ihrem realen Leiden können sie nicht entfliehen, auch wenn sie versuchen, sich selber medial zu entwirklichen.
Die "herausgelöste Ökonomie" kann sich immer nur tautologisch in sich selbst integrieren, aber ihr Anspruch auf reibungslose Totalisierung muß scheitern, weil sie das wirkliche, sinnliche Leben zwar negativ machen, aber nicht ihrer surrealen Welt der verselbständigten Abstraktionen einverleiben kann - ebensowenig wie sie imstande ist, den Tod zu entwirklichen. Das Verdrängte kehrt nicht zurück, es ist immer schon da. Nur an der Oberfläche des Designs erscheint das System der Spaltungen in die Ökonomisierung der Welt aufgelöst. Hinter diesem Schein aber wird die desintegrierte reale Welt unerträglich. Wie die geschlechtliche Abspaltung nicht in der Travestie verschwindet, sondern die postmoderne "Verwilderung des Patriarchats" (Roswitha Scholz) auch nach der Zersetzung der bürgerlichen Familie die Lasten der sozialen Krise primär auf die Frauen abwälzt, ebensowenig verschwindet das ästhetische Elend der funktionalistisch zugerichteten Welt im warenästhetischen Design, sondern tritt in der Trostlosigkeit der ökonomisierten öffentlichen Räume umso krasser hervor.
Wenn die reale Krise nicht mehr länger verdrängt werden kann, geht die mediale Entwirklichung dazu über, das unüberwundene und schmerzhaft wahrgenommene Elend zu "ästhetisieren", auch wenn diese Ästhetisierung der Krise nicht mehr die politischen Formen der 30er Jahre annimmt, sondern sogar in der Politik selber "ökonomisiert" in Erscheinung tritt. Aber aus der kommerziellen, warenästhetisch aufbereiteten Medialisierung von Armut, Gewalt und Verwilderung der Geschlechterverhältnisse grinsen die Motive des Faschismus heraus. Die Ästhetik von medialer Derealisation und maßstabsloser Beliebigkeit ist die Ästhetik des Bürgerkriegs und der Barbarei, denn sie beseitigt letzten Endes auch die zivilisatorischen Hemmungen.
Eine Rückkehr in die klassische Moderne kann es ebensowenig geben wie die Rückkehr in die alten agrarischen Formen der kulturell integrierten Gesellschaft. Aber ein Weiterleben in der kapitalistischen Desintegration ist ebensowenig möglich. Auch die Kunst kann sich nur selbst positiv aufheben, indem sie bewußt zum Moment einer neuen sozialen Bewegung wird, die über den alten Arbeiterbeweguns-Marxismus hinausgeht und die Wurzel bloßlegt, die das System der Abspaltungen und funktionellen Trennungen hervorgebracht hat. Eine kulturelle Integration der Gesellschaft auf neuer, höherer Stufenleiter der Entwicklung wird nur möglich sein, wenn der Selbstzweck der Ökonomie gebrochen und die basale geschlechtliche Abspaltung aufgehoben wird. Die Voraussetzung einer neuen emanzipatorischen Debatte ist heute die Notwehr gegen die kapitalistische Ökonomisierung der Welt.
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